![]() ISBN 978-3-940640-35-2 |
Der alte Obstgartenvon Thomas Neumann DIN A 5, ca. 151 Seiten. Preis: 9.90 Euro *inkl. Mwst. zzgl. Versandkosten Ab einem Warenwert von EURO 50,00 versenden wir innerhalb Deutschlands und EU versandkostenfrei! Widerrufsbelehrung |
Das Baumhaus
Ralf, Mehmet und ihre Klassenkameraden fieberten dem Ende der Unterrichtsstunde
entgegen. Selbst der verkürzte Unterricht erschien ihnen heute unendlich
lang. Draußen wärmte die Sonne bereits seit Stunden das Wasser im
Badesee und lockte bei jedem Blick aus dem Fenster. Dabei flimmerte der Schulhof
unter einem strahlend blauem Himmel.
So war es schon seit Tagen. Die einzige Abkühlung brachte ein Bad im See.
Dabei war die Hitze leichter zu ertragen.
Noch etwa eine halbe Stunde, wusste Ralf, dann würden sich Kalle, Sören
und er mit Mehmet auf die Fahrräder schwingen und den Weg zur Badestelle
entlang rasen.
Wie schon oft in den letzten Tagen trafen sich alle aus der Clique nach dem
Unterricht am See.
Die Klassenlehrerin, Frau Schreiber, versuchte auch heute, die Schüler
der vierten Klasse mit interessanten Themen zum Mitmachen zu bringen. Das war
wegen der hohen Temperatur im Klassenraum und weil es bereits die fünfte
Stunde war, ziemlich schwer.
"Denkt an Federtaschen, mehr werdet ihr nicht brauchen."
Sie erläuterte den bevorstehenden Projekttag in der Stadtbücherei
und belehrte die Schüler der Klasse über die Verhaltensregeln.
"Für die Bibliothek gilt absolutes Sprechverbot. Getränke und
Speisen bleiben in euren Rucksäcken und Taschen."
Der Bibliotheksausweis war für den nächsten Tag wichtig. Jeder Schüler
sollte ein Buch ausleihen, wenn sie gemeinsam die Kinderbibliothek entdecken
würden.
"Wer von euch war schon einmal in der Bibliothek?", wollte die Lehrerin
wissen.
Inge meldete sich sofort. Drei weitere Schüler folgten.
"Nur ihr vier?"
Frau Schreiber musste sich setzten, um sich Notizen zu machen. Die Klassenlehrerin
schrieb immer alles auf, was ihr wichtig erschien.
"Erstaunlich. Sehr erstaunlich.", flüsterte sie dabei.
Nach ein paar weiteren Fragen hatte Sie herausgefunden, dass es wirklich nur
wenige Schüler in der Klasse gab, die einen Ausweis für die Bücherei
besaßen. Die meisten Schüler hatten noch niemals ein Buch ausgeliehen.
Deshalb sollte der Projekttag auch eine wichtige Bedeutung bekommen. Es war
eine Hausaufgabe für alle Schüler gewesen, sich in der Kinderbibliothek
anzumelden. Doch das war schon Wochen her. Die Aufgabe war in der Sommerhitze
untergegangen.
Bücher, die Bibliothek, Deutschunterricht, das alles waren Sachen, die
Ralf nicht so sehr interessierten.
Ralfs Gedanken schweiften ab, und in Gedanken war er am neuen Baumhaus. Es war
schon fast fertig geworden. Seine Freunde und er hatten seit mehr als drei Wochen
jeden Tag daran gebaut. Die Bretter aus der Tischlerei von Georgs Vater hatten
gereicht, um in die Astgabel des Walnussbaumes einen stabilen Fußboden
zu zimmern.
Georgs Vater hatte die Stabilität geprüft und den weiteren Ausbau
dann den Jungs überlassen. Sie waren alle elf Jahre alt und schon ziemlich
geschickt mit Hammer und Nägeln.
Alle außer Piet. Piet war Georgs Bruder und erst neun.
Piet nervte ziemlich oft, konnte aber prima Seilklettern. So konnte er fast
jeden Ast auf dem Baum erklettern, der
Halt für das Baumhaus geben konnte.
So ergab es sich ganz von alleine, dass er das Dach des Baumhauses fast ohne
die Hilfe der älteren Jungen gebaut hatte. Genau genommen die Hälfte,
die schon fertig war. Das war auch der Grund, warum der kleine Bruder überhaupt
dabei sein durfte. Er hatte gezeigt, dass er mithelfen konnte und so gehörte
er eben dazu.
Weiter waren sie mit ihrem Baumhaus noch nicht gekommen. Das Holz war alle gewesen.
Sie würden neue Bretter brauchen, auch Schrauben und später eine Plane,
um das Dach wasserdicht zu bekommen.
Doch heute war es eindeutig zu warm um am Baumhausdach weiter zu arbeiten. Besonders
war es zu warm, um in der Schule zu sitzen, fand Ralf.
Ralf sah aus dem Fenster und sah schon ein bunt angestrichenes Baumhaus vor
sich, von dem überall Seile herabhingen. Das Haus ragte bis in die Wipfel
und hielt Wind und Regen stand.
Seine Gedanken kehrten langsam zum Unterricht zurück. Gerade noch rechtzeitig
um die Aufforderung von Frau Schreiber zu hören.
"Ralf, würdest Du bitte noch einmal den Treffpunkt für morgen
an die Tafel schreiben?".
Er hatte nicht zugehört und blickte fragend zu Mehmet.
Sein Freund wollte schon etwas sagen, hatte dann aber eine bessere Idee. Langsam
hob er sein Buch hoch und tat so, als wenn er lesen würde. Anschließend
hob er alle Finger wie unbeabsichtigt in die Luft und versteckte die Daumen
dabei hinter den Handflächen. Ralf musste grinsen. Das sah schon sehr komisch
aus.
Er schrieb das, was er verstanden hatte, an die Tafel.
" 8.00 Uhr an derr Biebliotek.", stand da nun.
Die neue Zeichensprache, die sie sich ausgedacht hatten, war nicht schwer. Sie
hatte sich gerade einmal wieder bewährt.
Gegen die ständigen Fehler, die Mehmets bester Freund beim Schreiben machte,
half sie nicht.
Sofort meldete sich Inge und wies auf die Fehler hin. Sie konnte nicht nur alles
schreiben, sondern hatte vermutlich auch schon jedes Buch in der Bücherei
gelesen.
Inge wusste so ziemlich alles und jeder in der Klasse wusste das. Wenn Inge
korrigierte, konnte man sicher sein, dass anschließend keine Fehler vorhanden
Waren. Keine bei den Rechenaufgaben und keine beim Schreiben.
"Ein "r" ist zuviel in dem Wort "der" sowie ein "e"
hinter dem "i" in Bibliothek. Außerdem fehlt das "h"
im selben Wort."
Ralf verdrehte die Augen und zischte in die Richtung der Klassenbesten leise
Gemeinheiten.
"Was hast du gesagt, Ralf?", fragte Frau Schreiber sofort in seine
Richtung.
"Ich?", spielte Ralf den Unschuldigen.
"Ich habe nur laut überlegt.", antwortete er weiter.
"Natürlich hatte er seiner Klassenkameradin nicht zugehört.
Er begann zu schwitzen, was nicht nur an der Hitze im Klassenraum lag.
Als das Klingelzeichen erklang, atmete Ralf auf, legte die Kreide ab und wollte
zu seinem Platz gehen.
Es war Mucksmäuschenstill.
Nicht einmal Mehmet versuchte ihn zu retten.
"Mach bitte weiter.", forderte Frau Schreiber Ralf auf,
die Worte in eine richtige Schreibweise zu bringen .
Es war verkürzter Unterricht. Das Klingelzeichen war gar nicht das Signal
für das Ende der Stunde.
Ralf und die meisten seiner Freunde waren froh, dass in drei Tagen die Ferien
begannen. Sechs Wochen ohne Schule und ohne die gefürchteten Deutschstunden
bei Frau Schreiber.
Alle anderen Fächer bereiteten ihm keine Probleme, aber mit der Reihenfolge
der Buchstaben in einem Wort stand er auf Kriegsfuß.
Doch heute war es heiß, irgendwann war auch die letzte Stunde zu Ende.
Die nächsten Tage gab es verschiedene Projekte. Georgs Vater hatte recht,
es waren eigentlich schon Ferien.
Ralf und Mehmet kamen gleichzeitig an der Badestelle an. Die Fahrräder
flogen in ein Gebüsch wobei ein lautes Scheppern von Metall auf Metall
signalisierte, dass ihre Freunde Georg und Piet schon im See sein mussten. Ihre
Fahrräder waren jedenfalls schon am üblichen Platz.
Die Lampe ist bestimmt jetzt hin, dachte Ralf noch, als er über die Wiese
die letzten Schritte zum See rannte. Seine Sachen hatte er halbwegs auf seine
Sandalen geworfen hatte und war ins kühle Wasser gesprungen..
Beim Eintauchen hörte er schon wieder jenes metallische Geräusch,
dass immer entstand, wenn die Rahmen zweier Fahrräder aufeinander schlugen.
Kalle und Sören mussten auch angekommen sein.
Ihre Fahrräder litten regelmäßig darunter, dass es an der Badestelle
keinen Ständer dafür gab.
Nach stundenlangem baden, tauchen und Fußball spielen saßen die
Jungen beieinander, hatten die Reste aus ihren Brotdosen auf einer Decke vor
sich ausgebreitet und tranken Cola, die Ralf heute spendierte.
"Mein Vater hat kein Holz mehr für das Baumhausdach.", rückte
Georg nach einer Weile mit der schlechtesten Nachricht des Sommers heraus.
"Der Riesenauftrag für die Rastplätze am Radwanderweg braucht
alles was im Lager ist." redete Piet wie so oft dazwischen. Georg sah wütend
zu seinem Bruder.
"Kann ich vielleicht mal ohne Vorsager reden?", fragte er seinen Bruder.
"Jedenfalls hat Papa mir vorhin erklärt, dass er uns vorläufig
nicht mehr helfen kann. Holz kriegen wir auch keines mehr."
"Wo bekommen wir den die Bretter sonst her?", überlegte Sören.
"Wie viel Geld habt ihr mit?", wollte er von seinen Freunden wissen.
Schnell stellte sich heraus, dass es für einen Einkauf im Baumarkt nicht
reichen würde.
"Dann holen wir uns das Holz dort, wo es herumliegt."
Sören hatte jetzt ganz leise gesprochen. Er drehte sich nach allen Seiten
um als wenn er befürchtete, belauscht zu werden.
"Klauen wir es vom Baumarkt?"
Warum musste Piet bloß immer so rumbrüllen.
Inge und die anderen Mädchen, die in der Nähe auf Decken in der Sonne
lagen, hatten sich schon zu ihnen umgesehen.
Gerade Inge, die Klassenbeste in allen Fächern außer vielleicht im
Sport sollte nun lieber nichts von ihrem Gespräch hören.. Ihr Vater
war Sportlehrer und es wurmte ihn sehr, dass seine geniale Tochter gerade in
seinem Unterricht Mühe hatte.
Das hatte Inge Ralf vor kurzem erzählt. Er wusste auch, dass sie gerne
richtige Freunde hätte.
Selbst hier an der Badestelle am See saß Inge alleine auf ihrer Decke,
während um sie herum Gruppen und Grüppchen von Jungen und Mädchen
aufeinander einredeten und miteinander spielten. Die Schüler aus der sechsten
Klasse saßen sogar alle zusammen direkt am Seeufer.
Ralf mochte Inge. Doch das konnte er nicht zugeben, denn seine Freunde und auch
viele Klassenkameraden fanden sie nervig und richtig doof. So redete er nur
manchmal auf dem Weg nach Hause mit ihr, wenn er alleine gehen musste. Das war
selten. Erst recht, seit er mit seinen Freunden den Baumhausbau begonnen hatte.
Inge hatte sich wieder abgewandt.
"Spinnst du?", fuhr Sören den Jüngeren an.
"Niemand hat was von klauen gesagt."
"Der Penner bringt alles durcheinander und lockt noch die Polizei an, ohne
dass wir was verbockt haben."
Kalle kannte sich aus mit der Polizei. Sein ältester Bruder arbeitete seit
einigen Jahren bei der Kripo und jagte ihm hin und wieder auch einmal einen
Schreck ein.
Wer das nicht wusste, konnte Kalle mit seinen Sprüchen für oberlocker
halten. Doch er hatte von allen aus der Baumhausclique die meiste Angst, irgend
etwas verbotenes zu tun. Dann würde er sicher irgendwann im Gefängnis
landen. Meinte jedenfalls sein Bruder.
"Was hast du vor?" wollte Mehmet wissen.
"Im Wald auf der anderen Seite vom See steht ein Futtertrog für Wildtiere.
Da sind Dächer als Schutz aufmontiert.", antwortete Sören mit
Flüsterstimme.
"Also doch klauen?"
Kalles Stimme war jetzt noch unruhiger.
"Eher ausborgen.", verbesserte Sören.
"Im Sommer werden die Rehe nicht gefüttert, also spricht nichts dagegen,
dass wir die beiden kleinen Dächer abmontieren. Die sind eine tolle zweite
Hälfte für unser Haus. Im Herbst bringen wir sie dann rechtzeitig
zurück."
"Wenn wir andere Bretter bekommen, können wir ja schon früher
alles in Ordnung bringen." meinte Ralf. Er hielt es für keine so schlechte
Idee, die ungenutzten Dächer der Futterkrippen aus dem Wald zu holen.
Kalle und Piet waren nur schwer zu überzeugen, aber der Plan war einfach
zu gut. Es konnte ja auch nicht auffallen. Nicht im Sommer. Einstimmig beschlossen
die Freunde, dass die Futterstelle pünktlich in den Herbstferien wieder
in Ordnung gebracht werden würde. Spätestens.
Georg bekam den Auftrag, am ersten Ferientag die Dächer auszumessen und
mit dem fehlenden Teil auf dem Baumhaus zu vergleichen. Schließlich musste
es auch passen und die zweite Dachhälfte zudecken.
Kalle und Piet sollten im Baumarkt eine Plane kaufen, dafür würde
das gesparte Geld noch reichen, dass sie in einer Dose in einem Astloch über
dem Baumhaus versteckt hatten. Dann war die Clubkasse, wie sie es genannt hatten,
leer.
Die Plane, die die Jungen einkauften, war genau drei Meter lang und drei Meter
breit und aus einem sehr festen Material. "Gewebeplane.", stand auf
der Verpackung.
Die Freunde spannten die Plane auf das Baumhaus und banden sie mit einem Seil
fest. Das zogen sie durch die Ösen am Rand der Plane.
"Das müsste wasserdicht sein.", meinte Mehmet als sie mit der
Arbeit in luftiger Höhe fertig waren.
"Na, Sturm sollten wir lieber nicht kriegen."
Kalle musterte das Ergebnis ihrer Dachdeckerarbeiten etwas skeptischer.
"Aber es müsste erst einmal halten."
Ralf war noch im Baumhaus geblieben, nachdem alle weiteren Vorhaben besprochen
worden waren und die Freunde sich auf den Weg nach Hause gemacht hatten. Alle
Fahrräder waren verschwunden.
Ralf hatte seines schon zu Hause abgestellt. Das Haus seiner Eltern war auf
dem Nachbargrundstück und so hatte er den kürzesten Heimweg.
Der Blick aus dem Fenster war immer wieder schön. Verschiedene Obstbäume
bildeten fast einen kleinen Wald und das Gras stand sehr hoch zwischen den Bäumen.
Piet war an manchen Stellen im Garten zwischen den Gräsern und Brennnesseln
nicht mehr zu sehen. Das war aber nicht weiter schlimm, denn Piet war fast ständig
zu hören.
Ralf schloss das Fenster und schob den Riegel vor. Dann verschloss er auch die
Tür. Besonders stolz waren er und Mehmet gewesen, als sie es tatsächlich
hinbekommen hatten, in die Tür ein Schloss einzubauen.
Bevor er die Strickleiter, die er gerade herabgeklettert war mit dem Seil hochziehen
konnte, musste er den Karabinerhaken aufdrehen und von der Befestigung lösen.
Er drehte sich um, und wollte nach dem unteren Ende der Leiter greifen.
Er erschrak fürchterlich.
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