Aus aktuellem Anlass:
Teddy Matthaus "Das Foto" (© 2011)
Eine prophetische Geschichte
über Deutschland im Pandemie-Modus
hier exklusiv in voller Länge
„Leonhard!“ dröhnte es durchs Haus. Lenni wusste sofort, dass die Lage ernst sein musste, wenn seine Mutter ihn so rief. Also schob er schnell seine Holzeisenbahn in den nächsten Bahnhof unter dem Bett und lief in die Küche.
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mir endlich die Nagelschere bringst? Deine Fußnägel machen ja die ganzen Socken kaputt!“
Lenni zuckte zusammen und suchte Schutz hinter einer offenstehenden Tür der orangefarbenen Einbauküche. „Neeein!!“ rief er mit verängstigtem Blick. „Du schneidest mir immer alle Finger ab!“ – „Jetzt erzähl doch nicht so einen Unsinn! Ich hab dir noch nie einen Finger abgeschnitten. Außerdem heißen die Finger an den Füßen Zehen.“ – „Dann hast du mir eben alle zehn Füße abgeschnitten!“ schrie Lenni und seine Augen bereiteten sich allmählich auf den Einsatz von Tränenflüssigkeit vor. „Dann schneid sie dir alleine! Aber sofort!“ schlug Lennis Mutter schließlich vor um Schlimmeres zu verhindern. Gerade wollte sie ihre Aufforderung noch mit einem strengen Blick über den Brillenrand unterstützen, da war er auch schon wieder verschwunden.
Ein herzzerreißender Schrei durchschnitt die gerade erst zwei Minuten andauernde Stille im Haus. „Mamaaaaa!!“ Lennis Mutter ließ die gelbe Fliegenhaube in die frisch verzierte Kremtorte fallen und eine Stoff-Sonnenblume gesellte sich zwischen den Schokoraspeln zu einer Kirsche. „Was ist passiert?“ rief sie und leckte sich gespannt die Sahne vom Finger. „Eine Spinne will meine Füße aufessen!“ Mama verdrehte die Augen, denn vergleichbare Horrormeldungen gab es etwa zehnmal am Tag. „Warte, ich hole den Fotoapparat!“ antwortete sie also gelassen und schlurfte ins Wohnzimmer. Lenni saß auf der untersten Stufe der Treppe und beobachtete aufgeregt, wie eine kleine schwarze Spinne in ihrem Netz seinen ersten abgeschnittenen Fußnagel untersuchte. „Und dafür hab ich jetzt also die Torte für unser Sommerfest im Kindergarten ruiniert!“ seufzte Mama und zielte mit ihrer Kamera auf das gefährliche Monstrum.
Lenni sprang auf und wollte schon wieder losrennen. „Nein, du rufst jetzt Niemanden an!“ sagte seine telepathisch begabte Mutter und hielt ihn an der Hose fest. „Wir gehen gleich zum Kindergarten. Dann kannst du allen von deinem Abenteuer erzählen. Aber wir gehen erst, wenn du deine Fußnägel geschnitten hast! Hast du gehört?“ Lenni grummelte vor sich hin, dann holte er Luft... „Ja, ich drucke das Foto aus und wir nehmen es mit in den Kindergarten.“ Lenni wunderte sich nicht, warum seine Mutter immer alles vorher wusste. Es war einfach so.
Das Kindergartenfest war ein voller Erfolg, es wurden viele Spenden eingenommen und Lennis Foto durfte noch als letzte Einsendung am Fotowettbewerb teilnehmen. Alle Fotos sollten im langen Gang neben dem Büro aufgehängt werden und eine Woche lang konnte Jeder seine Stimme abgeben. Eine Jury sollte später dann die Gewinner bekannt geben. Der Vater der kleinen Polin Wioletta, ein Biologe, interessierte sich besonders für Lennis Foto. Am Tag nach dem Fest stand er fast zwei Stunden lang davor. Ab und zu nuschelte er etwas vor sich hin und machte sich aufgeregt Notizen. Am Sonntag konnte man es dann in der Zeitung lesen: Es handelte sich wahrscheinlich um eine Unterart der in Europa als ausgestorben betrachteten „Getüpfelten Kräuseljagdspinnen“, die selbst in ihrer eigentlichen Heimat, dem östlichen Nordafrika nur noch in der ungetüpfelten Form zu finden ist. Im Dorf sprach sich die Sensation schnell herum, aber man wusste nicht, wie man darauf reagieren sollte. Die meisten Einwohner waren zwar irgendwie stolz, behielten es aber für sich. Die Spinne selbst war sowieso verschwunden.
Eines Tages klingelte beim Amtsvorsteher im Moorweg das Telefon. Es war die im übernächsten Zimmer sitzende Leiterin der Abteilung Friedhofswesen Diana Krumm, die gleichzeitig stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte und Mitglied der Parteilosen Linken war. Ihre Partei hatte zwar noch nie mehr als 0,4% der Stimmen erreicht, aber Frau Krumm genoss doch hohes Ansehen, da ihr Mann Eberhardt der beste Bäcker im Ort war. Die Friedhofsfrau forderte jedenfalls einen sofortigen Baustopp am Dorfbahnhof. Wegen der besonders in den Sommermonaten unerträglichen Geruchsbelästigung hatte man beschlossen, die Toiletten unter das alte Bahnhofsgebäude zu verlegen. Jetzt also sollte der Bau gestoppt werden, weil man befürchtete, es könnte sich um eine Brutstelle der letzten noch lebenden „Getüpfelten Kräuseljagdspinnen“ handeln. Der Amtsvorsteher wollte sofort den gesamten Amtsausschuss zusammenrufen. Nach der peinlichen Diskussion um die Änderung der Satzung der Gemeinde über die Abwälzung der Abwasserabgabe für Kleineinleiter konnte er sich keinen neuen Skandal mehr leisten.
Die Sitzung des Amtsausschusses endete ohne Ergebnis, denn zwei Mitglieder waren Anwohner des Bahnhofs und die zweite Stellvertreterin des Amtsvorstehers und Schriftführerin war an Röteln erkrankt. Man wollte eine Schlichtungsstelle anrufen. Die Parteilosen Linken hängten ein mahnendes Plakat mit der Aufschrift „Auch DU könntest die letzte Spinne sein!“ am Bahnhofs-Fahrradständer auf, was jedoch sofort vom Amtsvorsteher wieder entfernt wurde. Noch am gleichen Abend meldete sich der französische Spinnenforscher Jean-Claude Araignée bei der Kleinanzeigenaufnahme des Amtsblattes und erklärte, dass eine ostafrikanische Abart der getüpfelten Kräuseljagdspinne nachts schlafende Tüpfelhyänen beißen würde. Ohne diese Spinnen würden sich möglicherweise in Äthiopien die Tüpfelhyänen ungehindert vermehren und könnten dann theoretisch über Vorderasien gefährliche Krankheiten bis nach Europa einschleppen.
Der Amtsvorsteher war von der Situation überfordert und trat zurück. Seine Aufgaben übernahm vorübergehend die Kindergartenleiterin Frau Müller, die sofort per Email sämtliche Ministerien in Berlin informierte und ihren Text gleichzeitig bei Facebook veröffentlichte. Zwei japanische Fernsehteams waren die ersten, die ihre Satellitenanlage am Bahnhof aufbauten. Ein Sprecher des Bundes-Gesundheitsamtes erklärte, dass zwar der gefährliche „Gemeine Hasenschnupfen“ durch Tüpfelhyänen auch auf Menschen übertragen werden könnte, betonte aber gleichzeitig, dass es derzeit kein Anlass zur Sorge gäbe. Das Ministerium hätte die Lage unter Kontrolle.
Am Montag erschien ein Bericht des Nachrichtenmagazins „Der Schniedel“ mit brisanten Enthüllungen aus der Gesundheitsbehörde: Der einzige verfügbare Impfstoff gegen den gemeinen Hasenschnupfen war in Deutschland nicht zugelassen. Zwar versuchte man mit Hochdruck, eine Gesetzesänderung zur Vereinfachung der Zulassung noch vor der Sommerpause des Bundestags durchzupeitschen, jedoch befanden sich die Sachverständigen für Hasenerkrankungen fast ausnahmslos bei einem Kongress auf einem Kreuzfahrtschiff im Indischen Ozean. Die Europäische Gesundheitsbehörde EuGeSuBeHö warnte vor einer Pandemie. An der tschechischen Grenze erschoss ein Förster einen Hund mit getüpfelten Beinen. Niemand wusste genau, wie ernst die Lage wirklich war. Viele Menschen belächelten die allgemeine Hysterie, aber die von der Supermarktkette Feinkost-Waldi angebotenen Gasmasken waren bereits nach wenigen Stunden ausverkauft.
Dann der Schock: Bei einer Hausfrau in Schleichbeutlingen an der Würmlau wurde spontane, aggressive Verblödung festgestellt, möglicherweise hervorgerufen durch den Hasenschnupfenvirus. Der Hyazinth-Wäckerle-Weg wurde unter Quarantäne gestellt. Sämtliche Hasen und sonstigen Kleinnager vom Ufer der Würmlau bis zum Fahrradladen an der nächsten Ecke müssten getötet und zur Sicherheit radioaktiv bestrahlt werden. Der Apothekerverband bemängelte, dass der eilig aus der Schweiz importierte Impfstoff trotz eingeschweißter Ampullen nach Emmentaler stinken würde.
Polen bot Impfstoff zum halben Preis an, doch der Gesundheitsminister warnte vor Billigimporten, da es zu unvorhersehbaren Nebenwirkungen kommen könnte. Mehrere Nachbarländer diskutierten über eine allgemeine Impfpflicht. Die deutsche Regierung rief dagegen zur Ruhe auf, hielt aber Steuererhöhungen für unvermeidbar. „Die Kassen sind leer!“ wurden Sprecher aller Parteien zitiert. Auch die sozial Schwachen müssten mit Einschnitten rechnen. Krankenkassen rechneten mit Mehrausgaben in Milliardenhöhe. Das Ordnungsamt wurde mit modernster Spionagetechnik ausgestattet, um der Terrorgefahr durch militante Tierschützer zu begegnen. Die geplante Erhöhung des Kindergelds wurde auf das Jahr 2088 verschoben. Die Kirche befürchtete die längst erwartete Strafe Gottes.
Nach wenigen Tagen war die erste deutsche Massenimpfung generalstabsmäßig vorbereitet. In der Bevölkerung bestand jedoch seit Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft kein Interesse mehr. Von den bestellten 90 Millionen Ampullen wurden in den ersten Wochen nur 321 von den Ärzten angefordert. Um auch weiter eine sichere Versorgung der Ärzte mit Impfstoff durch umweltfreundliche Elektroautos zu gewährleisten, müssten in Deutschland zahlreiche neue Braunkohlekraftwerke errichtet werden, sagte der Sprecher des schwedischen Energiekonzerns Warzenknall. Die deutsche Regierung bedankte sich für die Schaffung Tausender neuer Arbeitsplätze. Die inzwischen deutschlandweit aktive Parteilose Linke warnte vor Klimawandel durch Blähungen als Folge der Impfung. Ein Klimaforscher von RTL7 befürchtete ein Ansteigen bzw. Absinken des Meeresspiegels, eine neue Eiszeit in Grönland und eventuell verstärkte Wüstenbildung in Nordafrika, in jedem Fall Schmelzen sämtlicher Gletscher in Polen.
Eine unerwartete Wende gab es Anfang November, als der Spinnenforscher Jean-Claude Araignée gegenüber RTL7 behauptete, er hätte das erste Foto der Getüpfelten Kräuseljagdspinne eindeutig als Fälschung entlarvt. Das Nachrichtenmagazin „Der Schniedel“ verdächtigte das renommierte Berliner Mediadesign Unternehmen Hauruck und Wurstmann, das Foto digital nachbearbeitet zu haben. Am gleichen Tag erklärte ein Sprecher des Heiligen Johannisbeerstifts in Schleichbeutlingen, dass die verblödete Hausfrau wohl von einem eifersüchtigen, rechtsradikalen Klempner aus der Nachbarschaft mit Schimmelspray vergiftet worden war. Polen bot an, den übrig gebliebenen Impfstoff gegen Zahlung des doppelten Preises zurückzunehmen.
Ein letztes Problem waren die radioaktiv verstrahlten Hasen. Sie mussten in einem Castortransport von Bayern zum Endlager nach Tantow in Mecklenburg-Vorpommern gebracht werden. Es gab vereinzelte Proteste der Bevölkerung, einige Menschenketten in Berlin, einen katholischen Kindergottesdienst unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Worms. In Angermünde ketteten sich Castorgegner an Bahnschienen, der Frauenkegelverein „Tantower Tanten“ kettete sich an die Tanne vor ihrer Kegelbahn, die norddeutsche Hasenschützerin Swantje M. kettete sich an einen Hasen.
Sieger im Fotowettbewerb wurde ein Foto der Kindergartenleiterin, die anlässlich der Weihnachtsfeier im Landgasthof „Moorgrund“ zum ersten Mal ihre neue Brille aufhatte. Das Spinnenfoto bekam den 4. Preis und wurde mit 2 Tüten Gummibären belohnt. Lenni war glücklich.
aus Seltsame Geschichten
ISBN:
9783940640376
erschienen bei Literaturdepot
erhältlich bei:
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