![]() ISBN 978-3-940640-24-6 |
Barrieren - Leben mit der Sucht anderervon Marie-Therese Marquart DIN A 5, ca. 453 Seiten. Preis: 15.90 Euro *inkl. Mwst. zzgl. Versandkosten Ab einem Warenwert von EURO 50,00 versenden wir innerhalb Deutschlands und EU versandkostenfrei! Widerrufsbelehrung |
Bis zu meinem zehnten Lebensjahr lebte ich allein mit meiner Mutter. An Vater,
der ein Vierteljahrhundert älter gewesen war als Mutter und überraschend
durch einen schweren Herzinfarkt dahingerafft wurde, als ich noch ganz klein
war, erinnere ich mich nur dunkel. Er musste ein unendlich gütiger Mann
gewesen sein, der mich grenzenlos geliebt und eine große Zukunft für
mich geplant hatte. Er wollte mich studieren lassen, mir alle Wege ebnen, um
auch als Mädchen beruflich erfolgreich sein zu können. Leider konnte
dies alles nicht mehr erfüllt werden, denn er starb unbegreiflicherweise
ohne jede finanzielle Absicherung für seine kleine Familie. Zwar lebten
wir im eigenen Häuschen, aber ohne sonstige Mittel. Mutter erhielt nur
eine minimale Witwenrente und musste sehr sparen, um uns alleine durchzubringen
und darüber hinaus das Häuschen zu erhalten.
Als Alleinerziehende war sie mit mir sehr streng. Sie meinte wohl, mir den Vater
ersetzen zu müssen und mich nur so optimal auf das harte Leben vorbereiten
zu können. Sie ließ nichts durchgehen, war immer ernst und nachdenklich.
Und obwohl sie doch am eigenen Leib schmerzhaft erfahren hatte, wie es ist,
geschlagen zu werden, prügelte sie mich in Anfällen von ohnmächtiger
Wut grün und blau, wenn ich etwas angestellt hatte. Immer waren es belanglose
Vorkommnisse, um derentwillen sie mich schlug. Einmal ließ ich viele große
Kiesel in eine Regeltonne fallen, ein anderes Mal spuckte ich eine mir verhasste
Suppe heimlich in die Toilette und log, ich hätte sie aufgegessen. Natürlich
ertappte sie mich bei der harmlosen Schummelei. Die Strafe war als blaue Striemen
und Flecken noch tagelang zu sehen.
Dann ging ein großer Papierdrachen zu Bruch, den mein Vater eigens für
mich gebaut und für später aufbewahrt hatte, wenn ich erst einmal
groß genug dafür sein würde. Ich bettelte so lange, bis ich
ihn haben durfte, doch musste ich Mutter hoch und heilig versprechen, gut auf
den für mich viel zu großen Drachen aufzupassen und ihn heil wieder
nach Hause zu bringen. Stolz zeigte ich ihn meinen Spielkameraden.
"Der ist doch viel zu groß für dich kleiner Knirps!", riefen
sie.
"Nein! Bitte nicht kaputt machen!", flehte ich vergeblich mit meinem
dünnen Stimmchen, doch die wilden Nachbarsjungen hatten mit einem "Na,
lass doch mal sehen!" nur gelacht, hatten sich ihn geschnappt und waren
mit ihm quer über die Wiese gejagt, fest entschlossen, ihn in die Höhe
zu bekommen. Doch der Wind war sehr unberechenbar an diesem Tag. Eine plötzliche
Flaute ließ das zerbrechliche Fluggerät, das mit glänzend rotem
und blauem Drachenpapier bespannt, einem lachenden Gesicht bemalt war und einen
prächtigen, langen Schweif hinter sich hergezogen hätte, gnadenlos
abstürzen - wäre es doch nur etwas länger in der Luft geblieben!
Als ich mich erst gegen Abend mit den kläglichen Überresten des ehemals
schönen Papiervogels nach Hause wagte, versuchten meine kleinen Fingerchen
auf dem Heimweg vergeblich, die gebrochenen Stäbe zusammenzufügen
und die heillos verknotete Schnur zu entwirren. Für diesen Vertrauensmissbrauch
bekam ich von Mutter arge Schläge, an die ich mich noch heute erinnere.
Die Empörung über die Ungerechtigkeit, die ich jedes Mal empfand,
war grenzenlos. Denn nie waren es wirklich schlimme Dinge, die ich mir hatte
zuschulden kommen lassen, das wusste ich, obwohl ich nur ein Kind war. Mutter
nahm große hölzerne Kochlöffel, damit mir die Prügelstrafe
auch lange in Erinnerung bleiben sollte. Während sie auf mich eindrosch,
pflegte ich sie direkt anzusehen, zog nur die Mundwinkel vor Empörung nach
unten und gab keinen einzigen Schrei von mir, hob nicht einmal die Hand zur
Abwehr.
"Du verstocktes, kleines Luder, du!", schrie sie wie irre, während
ihre Stimme sich überschlug. Keuchend prügelte sie mit der anderen
Hand weiter, bis sie keine Kraft mehr hatte und irgendwann, wenn ihr Wutanfall
verebbt war, endlich zur Besinnung kam. Eine andere Art, mich für Verfehlungen
zu strafen, bestand darin, mich tagelang nicht anzusprechen. Mit schweigenden,
verkniffenen Lippen und eisigem Blick versorgte sie mich wortlos und gleichermaßen
lieblos wurde mir mein Essen vorgesetzt. Ich war in die dunkelste Ecke der Küche
verbannt worden, wo ein kleines Tischchen stand, an dem ich fortan zu essen
hatte. Nur daran, dass sie die verhasste Suppe demonstrativ überschwappen
ließ, wenn sie sie vor mich hinknallte, erkannte ich den mühsam verhaltenen
Zorn, den sie immer noch gegen mich hegte. Kein Zubettbringen und erst recht
keinen Gutenachtkuss gab es für mich in solchen Strafzeiten, die mir endlos
lang erschienen. In diesem dumpfen Vakuum zu leben, schmerzte mich viel mehr,
als Prügel zu bekommen, die zwar körperlich schmerzten, aber umso
schneller wieder verebbten. In diesen Stimmungseiszeiten, die für mich
schier unerträglich waren, sehnte ich mich brennend nach einer kleinen
Geste der Zuneigung von ihr, einem auch noch so kurzem Streicheln ihrer Hände,
die manches Mal so grausam sein konnten! Doch nach Prügelstrafen hatte
sie mich stets tröstend in den Arm genommen, mich gestreichelt und reuevoll
versucht, die Schläge mit leise gemurmelten Beschwichtigungsreden zu rechtfertigen,
mir irgendwie zu erklären, warum die Strafe verdient und somit unvermeidlich
war. Diese zärtliche Geste sollte mich die Hiebe vergessen machen und ich
genoss diese seltenen Liebesbeweise. Auch wenn mir noch der Körper überall
dort brannte und pochte, wo sie geschlagen hatte, verzieh ich ihr in diesem
Moment alles und liebte sie heiß und innig.
Wenigstens trinkt sie nicht wie meine Onkel und Tanten
!, dachte ich.
Hauptsache, ich wurde wieder geliebt von ihr, dieser strengen und unduldsamen
Frau, die nun einmal meine Mutter war. Dafür war ich bereit, nahezu alles
zu tun! Sie zu enttäuschen war wirklich das Letzte, was ich wollte.
Als ich zehn Jahre alt wurde, änderte sich mein Leben grundlegend. Durch
Vermittlung meines Onkels lernte Mutter eines Tages Harald kennen, der ihr als
arbeitsamer und lustiger Mann empfohlen worden war. Trotz seiner fast vierzig
Jahre war er immer noch Junggeselle und lebte mit seiner alten Mutter zusammen
in einem kleinen Häuschen im nahen Lüneburg. Entsetzt stellte ich
fest, dass Harald ebenfalls Bier trank, und ich fing an zu glauben, dass anscheinend
alle Männer Bier trinken mussten. Im Laufe der Zeit erschien es mir jedoch
als einigermaßen normal, denn zu Anfang konnte ich bei Harald keine der
mir bekannten Anzeichen von Betrunkensein feststellen. Er roch auch nicht wie
der Onkel nach Alkohol, schwankte und lallte selbst dann nicht, wenn er soeben
erst mehrere Flaschen Bier getrunken hatte. Stattdessen war er lustig und erzählte
immer irgendwelche spannenden Geschichten, machte Witze und konnte mit heller,
klarer Stimme schöne Lieder singen. Harald war ganz anders als andere Männer.
Ich konnte ihn sofort gut leiden.
Harald besuchte uns täglich. Er machte sich nützlich, wo er nur konnte,
mähte das hohe Gras, hackte und sägte Unmengen Brennholz, schnitt
die verwilderten Hecken, die längst ihre vorwitzigen Triebe in alle Himmelsrichtungen
ausgestreckt hatten. Danach reparierte er unser rostiges Gartentor, das wie
flügellahm nach einer Seite aus den Angeln hing, strich es neu und kümmerte
sich danach um den kaputten Zaun zwischen Nutz- und Ziergarten. Nach diesen
Arbeiten trank er an den Abenden immer Bier. Auch Mutter gönnte sich zu
meinem Erstaunen ab und zu ein Glas mit ihm zusammen, lachte dann viel und tauschte
heimlich Zärtlichkeiten mit ihm aus, wenn sie glaubte, dass ich gerade
nicht hinsah. Ich war froh und erleichtert über diese positive Wandlung.
So kannte ich sie kaum, so fröhlich und unbekümmert! Und ich fand
jetzt, dass sie eine wirklich schöne Frau war, wenn sie so verschmitzt
lachte und dabei den Kopf mit den dunklen Locken in den Nacken warf. Sie hatte
makellose schneeweiße Zähne, und wenn sie lachte, wirkte sie wieder
wie eine junge Frau, die sie im Grunde ja auch noch war. Nur die schwarze Trauerkleidung
und die strenge Miene hatten sie viel älter erscheinen lassen. Jetzt, im
Sommer, wurde sie schnell braun, trug endlich wieder helle oder geblümte
Kleider und wirkte dadurch viel freundlicher und sympathischer. Verstohlen und
bewundernd beobachtete ich sie, und ich nahm mir vor, als Erwachsene so zu sein
wie sie. Vergessen war die düstere Zeit, die ich allein mit ihr gelebt
hatte.
Abends saßen Mutter und Harald stundenlang zusammen, redeten viel und
schmiedeten Pläne. So war sie gottlob von mir und meinen harmlosen Streichen
abgelenkt und würde, so hoffte ich, künftig nicht mehr so streng sein.
Außerdem gab es jetzt Harald, der mich sicher beschützte, sollte
sie wieder einen ihrer Prügelanfälle bekommen. Er war immer nett zu
mir und erklärte mir viel über Tiere und die Natur, Dinge, die mich
sehr interessierten, wie etwa Vögel und Amphibien. Manchmal sangen wir
gemeinsam, und er lehrte mir die Melodien und Texte einiger seiner Lieder, denn
Harald begeisterte der Gedanke, dass ich Unterricht nahm im Schifferklavierspielen.
Er lobte mich und spornte mich an, viel zu üben, um noch besser zu werden.
Wir schienen wirklich eine glückliche Familie zu sein und alles war in
bester Ordnung, so glaubte ich.
Doch es kam alles ganz anders.
Als Haralds Mutter unerwartet starb, wollte er nicht weiter mit uns in unserem
Haus auf dem Lande wohnen bleiben. Vielmehr drängte er darauf, dass wir
zu ihm in sein Haus zogen, denn er hatte seiner alten Mutter am Sterbebett versprechen
müssen, wieder zu heiraten, das Elternhaus nicht verkommen zu lassen und
es zu bewohnen. Mutter heiratete Harald überstürzt, und es war nun
die Rede von Umzug. Mir war noch nicht klar, was das für mich bedeutete.
Zunächst war es mir gleichgültig, wo wir lebten. Hauptsache, es würde
sich an der guten Stimmung in der Familie nichts ändern. Als es aber dann
ernst zu werden schien mit dem Umzug, wollte ich nicht mehr wegziehen, fort
von meinem kleinen geheimnisvollen Wäldchen mit der großen Wiese
davor, auf der wir Kinder die Blumen der jeweiligen Jahreszeit pflückten
und über der hoch am Himmel die Lerchen sangen, dem kühlen Bach, in
dem wir Frösche fingen und uns die schmutzigen Füße badeten.
Das hieße ja Abschied nehmen von den Schulkameraden und von meiner besten
Freundin Karla mit ihrem langen, blonden Haar, dass ich ihr in unbeobachteten
Augenblicken oft aus den Zöpfen gelöst und so lange hingebungsvoll
gebürstet hatte, bis es wie flüssiges Gold in der Sonne glänzte.
Ich beneidete sie um ihr wunderschönes Haar, war doch mein eigenes, das
mindestens ebenso lang, aber dunkel und sehr lockig gewesen war, aus Gründen
der einfacheren Pflege kurz vor meiner Einschulung abgeschnitten worden. All
das und noch vieles mehr würde ich nun für immer verlieren, so wurde
mir erst jetzt bewusst!
Die Stadt machte mir außerdem Angst mit den vielen Autos und dem Lärm
und Gestank! Ich kannte sie nur zu gut von den Besuchen, die wir der Verwandtschaft
regelmäßig abstatteten, und war stets erleichtert, wenn wir nach
endlos langweiligen Stunden den Rückweg antraten. Ich würde wohl nie
ein richtiges Stadtkind sein! Ich liebte das Land, die Natur und die Tiere.
Dort, inmitten der unzähligen hohen Häuser, dicht an dicht gedrängt,
würde es bestimmt weder Frösche noch Grillen geben, die man hätte
beobachten und mit denen ich hätte spielen können. So beschloss ich
also, die Stadt und alles, was damit zusammenhing, ausgiebig zu hassen, und
hoffte, schon allein deshalb hier bleiben zu dürfen. Doch es half nichts!
Als die Erwachsenen mein betrübtes Gesicht sahen, lachten sie nur und meinten,
ich würde mich schon noch eingewöhnen.
Mitten im schönsten Landsommer zogen wir um. Vorbei an den wogenden Kornfeldern
und den rauschenden Bäumen, voll mit unzähligen, zwitschernden Vögeln,
und ich verstand die Welt nicht mehr! Traurig sah ich den Lerchen nach, die
ihr Abschiedslied hoch oben für mich sangen. Noch heute lebe ich in meinen
Träumen von der Erinnerung und der Sehnsucht nach der Idylle des Landlebens.
Und es wurde genauso schrecklich, wie ich es erwartet hatte! Das Häuschen
lag an einer viel befahrenen Hauptstraße, die, falls überhaupt, nur
unter erheblichen Gefahren für Leib und Leben überquert werden konnte!
Tag und Nacht rauschten und donnerten Autos und Lastwagen vorbei, und ich wunderte
mich, dass es überhaupt noch stand bei den ständigen Erschütterungen,
die man deutlich spüren konnte, wenn man nachts im Bett lag. Dann tasteten
die hellen Lichtkegel der vorbeifahrenden Autos unablässig die Wände
meines Zimmers ab, von einer Ecke zur anderen, als müssten sie sie ständig
aufs Neue sinnlos vermessen. Der inbrünstige Wunsch, die Autos mögen
doch endlich stillstehen, damit ich wie früher die Geräusche der Nacht
wahrnehmen konnte, wurde so übermächtig, dass ich in meinem Bett die
Luft anhielt, die Fäuste wütend ballte und mein Herz voll von trotzigen
Tränen war. Zu Hause auf dem Land hatten mich Grillengezirp und fernes
Hundegebell in den Schlaf gesungen. Hier gab es keine Tiere! Tot schien die
Stadt zu sein und doch voller bedrohlicher Unruhe! Viele düstere fremde
Möbel, Schränke sowie hässliche Gardinen vor den Fenstern bevölkerten
den hohen Raum, dessen Putz an der Decke eigenartige Muster und landkartenähnliche
Gebilde aufwies, aus denen selbst meine wirklich lebhafte Fantasie nicht schlau
wurde. Die alten Möbel verströmten einen muffigen Geruch, der mir
Kopfschmerzen machte. Darunter befand sich auch ein alter hässlicher Stuhl,
dessen Rückenlehne links und rechts als Abschluss grausige Männerköpfe
aufwies, die sich bei jedem Lichtstrahl, der ins Zimmer fiel, als verzerrte,
über die Wände huschende Schattenrisse abzeichneten. Das machte mir
zusätzlich Angst und Mutter musste nach einer schlaflosen Nacht den Stuhl
aus dem Zimmer nehmen. Harald aber lachte nur spöttisch, als er von meinen
nächtlichen Beklemmungen hörte. Dieser Spott war ein für mich
völlig neuer Zug an ihm, eine Eigenart, die ich an ihm noch hassen lernen
würde.
Seltsamerweise hatte sich mit der Ortsveränderung auch das Leben von uns
dreien irgendwie verändert. Es war so gut wie nichts mehr vorhanden von
der Lustigkeit und der Unbeschwertheit, die uns im Haus auf dem Lande begleitet
hatte. Vielmehr umfing uns nun eine unerklärliche Düsternis. Wir sangen
nicht mehr, und immer seltener wurde gelacht, stattdessen immer häufiger
gestritten, immer öfter fielen böse Worte oder wurden Türen laut
zugeschlagen. Mutter wurde viel zu spät klar, dass sie Harald zu überstürzt
geheiratet hatte. Sie hatte ihn ja kam gekannt! Nun zeigte er sich von einer
völlig anderen Seite! Aus seiner Junggesellenzeit hatte er sich zudem eigenartige
Gewohnheiten bewahrt, von denen er trotz seines neuen Ehestandes keinen Millimeter
abrückte und die erst jetzt, in seinem eigenen Haus, zutage traten. Mitten
in der Nacht verließ er wie selbstverständlich das Haus und kam erst
im Morgengrauen zurück. Dann wurde laut gestritten, wobei das Haus unter
den wilden Wortgefechten erzitterte. Irgendetwas Schlimmes war wohl mit uns
geschehen, seit wir in der Stadt wohnten. Woran es wirklich lag, wusste ich
nicht. Ich gab mich der Illusion hin, dass Mutter irgendwann sicher einsah,
dass vorher alles viel besser gewesen war. Inständig hoffte ich, wir würden
wieder zurückgehen aufs Land und es möge sich unser Leben wieder zum
Guten wenden. Doch unbegreiflicherweise blieb alles, wie es war.
In der neuen Schule gefiel es mir auch nicht. Dort gab es überwiegend eingebildete
Mädchen, die bereits Petticoats und Stöckelschuhe trugen und mich
als eine nach Kuhstall stinkende Landgöre bezeichneten. Hinter vorgehaltener
Hand tuschelten sie gehässig über mich. Kleinlaut brachte ich ein
einziges Mal zur Verteidigung hervor, dass ich noch nie im Leben einen Kuhstall
von innen gesehen hätte. Doch das wollten sie erst recht nicht glauben
und lachten mich aus. Meine Zensuren wurden zusehends schlechter. Sogar in Deutsch,
das immer mein Lieblingsfach gewesen war und in dem ich stets mit brillanten
Aufsätzen geglänzt hatte, sackte ich ab auf eine jämmerliche
Vier. Ich schämte mich, kam mir vor wie ein unwürdiger Wurm und verlor
mein ganzes Selbstvertrauen. Keines der Mädchen wollte sich mit mir anfreunden.
Nach einem weiteren hässlichen Zwischenfall, in dessen Verlauf ich einmal
mehr zum Gespött der ganzen Klasse geworden war, trat eines der Mädchen,
Margot war ihr Name, für mich ein. Sie stellte sich vor mich hin, breitete
einfach ihre Arme schützend vor mir aus und befahl den anderen, mich ab
sofort in Ruhe zu lassen. Von nun an hörten sie auf, mich zu schikanieren,
und Margot wurde meine beste Freundin, die jahrelang an meiner Seite blieb,
bis sich irgendwann unsere Wege durch die Wirrnisse des Lebens wieder trennten.
Die Jahre vergingen. In der Schule wurde ich allmählich wieder besser und
lernte, mich mit den Gegebenheiten in der Stadt zu arrangieren, ja sogar deren
Vorzüge kennenzulernen. Nicht zuletzt half mir Margot dabei.
Da trat erneut eine große Änderung in mein Leben: Mutter war in anderen
Umständen! Eine Tatsache, die für mich an ein Wunder grenzte. Ich
freute mich riesig und konnte es nicht mehr erwarten, bis das kleine Geschwisterchen
endlich auf der Welt sein würde. Schon jetzt bettelte ich darum, das Kleine
bei mir im Zimmer unterbringen zu dürfen. Ich war so glücklich, endlich
nicht mehr alleine sein zu müssen! Die Stimmung in unserer Familie hatte
sich im Laufe der letzten Zeit nicht gerade gebessert. Doch die Aussicht, ein
Geschwisterchen zu bekommen, versetzte mich in den festen Glauben, dass sich
nun doch alles wieder zum Guten wenden würde! Es konnte gar nicht anders
sein, so hoffte ich.
Harald hatte inzwischen stark zugenommen, rauchte Unmengen von Zigaretten und
trank Unmengen von Bier. Immer häufiger kam er bereits am Tage betrunken
nach Hause. Das Geld reichte vorn und hinten nicht mehr. Heftige Streitereien
und Konflikte waren an der Tagesordnung. Mutter sprach davon, sich von ihm trennen
zu wollen, weil er sich so verändert hatte.
"Irgendwann laufen wir einfach davon!", hörte ich immer öfter
aus ihrem Mund. Doch davon würde nun nicht mehr die Rede sein können.
Sie bekam schließlich ein Kind von ihm! Und außerdem, wohin hätten
wir gehen sollen? Unser kleines Haus auf dem Land war mittlerweile verkauft
und der Erlös für dringende Renovierungen an Haralds marodem Elternhaus
verwendet worden, das bereits vor dem Zweiten Weltkrieg erbaut worden und stark
reparaturbedürftig geworden war.
In dieses ungute Klima wurde nun meine kleine Schwester hineingeboren. Mutter,
bereits Anfang vierzig, fühlte sich durch diese späte Schwangerschaft
völlig überfordert. Sie erklärte bei jeder sich bietenden Gelegenheit,
Harald habe ihr das Kind mit Vorsatz "angehängt", nur um die
bereits drohende Scheidung nachhaltig abzuwenden. Was sie wirklich damit meinte,
verstand ich damals nicht. Wie in aller Welt konnte man denn nur versehentlich
ein Baby bekommen? Ich wusste sehr wohl, wie Kinder gezeugt wurden. Ich war
jedoch immer der Meinung gewesen, dass dazu beide gehörten, Mutter und
Vater! Jemandem ein Kind "anzuhängen" - wie in aller Welt konnte
denn das nur geschehen?
So lebten wir dahin, Tag um Tag. Immer noch fühlte ich mich fremd in diesem
engen schmalen Haus, mit seinen viel zu hohen Decken, die den Zimmern etwas
von einer Bahnhofshalle verliehen. Ich fürchtete mich in dieser hässlichen
Stadt, der unfreundlichen Umgebung, die durch die bösartigen Nachbarskinder
nicht gerade einladender auf mich wirkte. Das Haus stand zudem an einer sehr
belebten Kreuzung, die zu überqueren entweder viel Zeit oder aber viel
Mut erforderte. Ringsum ragten düstere hohe Häuser empor, wodurch
man sich in einer finsteren Schlucht wähnte. Jeder Versuch, den Blick in
die Ferne zu richten, war von vornherein zum Scheitern verurteilt! Bis zum heutigen
Tag spüre ich die Sehnsucht, stets in die Weite zu blicken über Wälder,
Felder und Wiesen bis hin zum Horizont. Wie sehr sehnte ich mich als Kind zurück
aufs geliebte Land! Dorthin, wo ich aufgewachsen war, da schien mir die Welt
noch heil, wo es keine Sorgen und Streit gab. Auch wenn mein Leben allein mit
der strengen Mutter nicht immer eitel Sonnenschein gewesen war, schien es mir
im Rückblick immer noch viel besser zu sein als dieses trostlose Leben
in der Stadt! Warum nur waren wir nicht dort geblieben? Alles wäre anders
gekommen, da war ich mir sicher. Hier fühlte ich mich wie eingesperrt,
ein großes Gefängnis, ein Labyrinth ohne Ausweg, so kam es mir jetzt
vor.
An einem düsteren Februarmorgen kam meine Schwester zur Welt, und ich weinte
vor Enttäuschung, weil ich von allem nichts mitbekommen hatte. Harald hatte
Mutter im frühen Morgengrauen in die Klinik gefahren, ohne mich zu wecken.
Die Wehen hatten eingesetzt. Ich hätte ihr so gern beigestanden, hätte
vielleicht ihre Hand gehalten, sie gestreichelt. Ich weinte bitterlich vor Angst,
ihr könnte etwas geschehen bei der Geburt. Doch alles verlief normal.
Das Neugeborene und Haralds zunehmende Leidenschaft für das Bier hielten
Mutter ununterbrochen auf Trab. Ich geriet mehr und mehr in den Hintergrund
und bekleidete eine Art stumme Statistenrolle. Meine Bedürfnisse und Probleme
wurden erst dann wahrgenommen, wenn unangenehme Vorkommnisse, wie beispielsweise
schlechte Noten, Mutters Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ansonsten war sie an
gute schulische Leistungen gewöhnt. Solange ich funktionierte, brauchte
sie sich um mich nicht zu kümmern. Deshalb war ich sorgfältig darauf
bedacht, stets eine gewisse Selbstständigkeit zur Schau zu stellen, um
nur ja keine besondere Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Darüber hinaus
wollte ich als bedürfnislos gelten. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen,
irgendwelche Ansprüche zu stellen oder gar um Zuwendung zu betteln. Mutter
hatte wahrlich schon genug Sorgen am Hals und ich wollte nicht auch noch einen
weiteren Beitrag zu der ohnehin schon gespannten häuslichen Atmosphäre
liefern! Neben ihren Problemen erschienen mir meine kleinen Sorgen lächerlich
unbedeutend und nicht der Mühe wert, überhaupt erwähnt zu werden.
Vorübergehende Schwierigkeiten in der Schule behielt ich sorgsam für
mich, denn ich galt als klug, und das wollte ich auch nicht ändern. Ich
suchte mir Hilfe, wenn ich etwas nicht verstand und mogelte, wenn nötig,
auch ungeniert. Wurde doch einmal einer meiner Fehltritte bekannt, zog das stundenlange
Vorhaltungen nach sich, mit denen Mutter die Rolle der pflichtbewussten Erzieherin
vor Harald recht übertrieben zur Schau stellte. Dann predigte sie mich
regelrecht in Grund und Boden! Hinterher hatte ich das niederschmetternde Gefühl,
nichts wert zu sein. Wegen meiner Verfehlungen und weil ich sie so sehr enttäuscht
hatte, quälten mich danach noch tagelang Schuldgefühle und tiefe Niedergeschlagenheit.
Ich wollte ihr doch so gerne eine gute Tochter sein, ihr nur Grund zur Freude
geben, damit sie stolz auf mich sein konnte
Meine neue Freundin, die zum Glück gleich auf der gegenüberliegenden
Seite der Straße wohnte, stellte meine einzige Zuflucht dar, wenn mich
der Kummer übermannte. Als sich Maggy, wie ich sie nannte, als erste von
uns beiden verliebte, konnte ich nur ahnen, welch intensives Gefühl das
sein mochte. Fasziniert betrachtete ich ihre glänzenden Augen, wenn sie
von ihrem Angebeteten schwärmte, und bemühte mich, nachzuvollziehen,
was in ihrem Herzen vor sich ging. Stundenlang gingen wir spazieren und fantasierten
uns ein schöneres Leben zusammen, weil uns die Realität so grau und
lieblos vorkam.
Viel später überfiel auch mich der erste Liebeskummer, nachdem ich
mich hoffnungslos in einen Nachbarsjungen verliebt hatte, der aber keinen einzigen
Blick auf mich verschwendete. Im festen Glauben daran, dass sie mich verstand,
vertraute ich Mutter eines Tages meinen Kummer an. Doch sie erzählte am
selben Tag Harald davon, der dies sofort zum Anlass nahm, ungefragt seine prahlerischen,
peinlichen Schilderungen seiner eigenen ersten Liebesabenteuer zum Besten zu
geben, die mir nur beschämend vorkamen. Schockiert zog ich mich zurück,
verhielt mich verschlossen und eigenbrötlerisch, um nur ja nicht wieder
derart peinliche Einmischungsversuche heraufzubeschwören!
Ich schwieg mich lieber aus und schrieb dafür regelmäßig Tagebuch.
Ihm, so glaubte ich, konnte ich alles anvertrauen, was ich dachte und fühlte.
Bald regten sich auch in mir völlig neuartige Träume und Sehnsüchte,
denen ich alleine nachts im Bett nachhing, die rätselhaften Muster an der
Decke betrachtend, wenn mich nicht gerade eine der vielen Auseinandersetzungen
zwischen Mutter und Harald unten im Erdgeschoss in Atem hielten. Grundlos befiel
mich eine dumpfe Angst, womöglich selbst Anlass für die Auseinandersetzungen
zu sein, was in letzter Zeit immer öfter der Fall gewesen war. So lauschte
ich angestrengt, um den Grund des Streites zu erfahren, bis ich schließlich
doch müde wurde und einschlief. Wenn ich am nächsten Morgen Mutters
sorgenblasses Gesicht sah und die vielsagende steile Falte zwischen ihren vom
Weinen roten Augen, kam ich mir irgendwie schäbig und treulos vor, als
hätte ich sie im Stich gelassen. Vielleicht ist es mir deshalb so unerträglich,
Zeuge bei Streitigkeiten zu sein.
Haralds Verhalten mir gegenüber hatte sich seit unserem Einzug in sein
Haus stark gewandelt. Er entwickelte außerdem plötzlich einen völlig
übersteigerten Hang, mich zu kontrollieren und mich als sein Stiefvater
fortan erziehen zu wollen. Darüber hinaus wollte ich seine Anordnungen
nicht befolgen, denn ich akzeptierte nur Mutter als Autoritätsperson, und
ich lehnte mich gegen Harald auf, wollte ihm nicht gehorchen. Nach einigen weiteren
unglücklichen und völlig unangebrachten Anweisungen, die mich völlig
aus der Fassung brachten und verwirrten, verbat sich Mutter von da an jegliche
Einmischung von seiner Seite.
"Das ist meine Tochter, verstehst du? Wie ich sie erziehe und was ich mit
ihr mache, das geht dich gar nichts an! Also halte dich bitte da raus, verstanden?",
wies sie ihn in barschem Ton in seine Schranken, falls er künftig auch
nur den kleinsten Versuch unternehmen sollte, den Stiefvater zu spielen. Er
durfte mir nicht einmal dann helfen, wenn Mutter offensichtlich ungerecht zu
mir war. Selbst von Harald gut gemeinte Ratschläge fegte sie mit immer
der gleichen Zurechtweisung vom Tisch, Harald habe sich nicht einzumischen.
Seine Rolle des Vaters wurde einfach als funktionslos erklärt. Zwar durfte
er wirtschaftlich für mich sorgen, hatte aber ansonsten keine erzieherischen
Befugnisse.
Gewissermaßen aus Rache begann er nun, seinem Unmut auf andere Weise Luft
zu machen. Er fing an, gezielt gegen mich zu hetzen. Jeder einzelne meiner Schritte
wurde von da an überwacht, um Mutter zu beweisen, dass ein strenger Vater
vonnöten sei. Ständig suchte er nach Verfehlungen meinerseits, die
er petzen konnte. So wurde Harald zum miesen Denunzianten, zum verachtungswürdigen
Spitzel, der nicht davor zurückschreckte, mir ungeniert nachzuspionieren.
Einmal heuerte er gar einen Nachbarn an, mich zu beobachten, wohin ich ging
und mit wem ich mich traf. Auch ich misstraute ihm fortan, fühlte genau,
dass er längst nicht mehr auf meiner Seite war, und ging ihm aus dem Weg,
so gut ich nur konnte. Immer öfter machte ich es mir zur Gewohnheit, die
Debatten zu belauschen, die sich jetzt allesamt nur um mich und meine angeblichen
Verfehlungen drehten, um im Bilde zu sein, was im Moment wieder einmal gegen
mich vorlag. Ich tat manchmal auch nur so, als verließe ich das Haus,
blieb aber dann unter dem geöffneten Fenster stehen, um Zeuge seiner miesen
Hetzkampagnen zu werden. Unter dem Deckmäntelchen angeblicher Sorge um
meinen guten Ruf versuchte er, mich in ein schlechtes Licht zu rücken.
Als er eines Tages schamlos mein Tagebuch aufbrach, empfand ich nur noch Verachtung
für ihn. Er hatte den letzten Vertrauensrest schändlich missbraucht,
mein wachsendes Misstrauen nur noch bestätigt. Zu dieser Zeit schwärmte
ich für einen Nachbarsjungen und schrieb jeden Tag in das kleine Leinenbüchlein,
das ich danach mit einem kleinen Schlüssel, den ich um den Hals trug, sorgfältig
verschloss. Das, was ich in aller Heimlichkeit niedergeschrieben und von dem
ich niemals angenommen hatte, dass es außer mir jemand anderes zu Gesicht
bekäme, zerrte Harald nun ans Licht er Öffentlichkeit. Rücksichtslos
gab er mich der Lächerlichkeit preis, rezitierte immer wieder mit Vorliebe
die heikelsten Stellen, in denen von glühender Liebe und Herzklopfen die
Rede war, und ließ dabei keine Gelegenheit aus, mich zu verhöhnen
und vor anderen zu demütigen. Dieser Mensch war für mich endgültig
gestorben! Nie würde ich ihm das verzeihen können!
Die Jahre mit Harald verstrichen zäh wie Kunsthonig, denn jeder Tag wurde
mir zum Albtraum! Ich war gerade sechzehn geworden. Innerlich zwar noch ein
Kind, wurde ich lediglich körperlich erwachsen. Schlank und gut gewachsen
drehten sich bereits jetzt die Männer nach mir um und pfiffen mir in eindeutiger
Absicht hinterher. Da regte sich ein völlig neues Selbstbewusstsein in
mir, womit gleichzeitig auch die Lust zur Aufsässigkeit gegenüber
dem Hauptstörfaktor in unserer Familie, diesem niederträchtigen Stiefvater,
wuchs! Unterbewusst hatte ich mir wohl bereits zu diesem Zeitpunkt ein Ziel
gesetzt: Harald musste weg, denn das Leben zu Hause war unerträglich geworden.
Plötzlich bat mich Mutter immer wieder um Hilfe.
Sie zählt auf mich! Sie braucht mich!, schoss es mir durch den Kopf. Und
diese Tatsache verlieh mir den nötigen Mut, in brenzligen Situationen einzugreifen.
Wenn Harald beispielsweise sturzbetrunken nach Hause kam, wurde Mutter regelmäßig
kreidebleich vor Angst und fragte mich zitternd: "Nanni, was soll ich nur
tun? Er ist schon wieder sternhagelvoll! Ich fürchte mich vor ihm! Wer
weiß, was er heute wieder alles anstellt! Hilf mir!"
Das musste sie mir nicht zweimal sagen! Endlich konnte ich mich bewähren
und ihr zeigen, wie erwachsen ich schon war. Dreist stellte ich mich dem sinnlos
betrunkenen Harald in den Weg, beschwor Konfrontation geradezu heraus in dem
grimmigen Entschluss, wenn es zum Angriff kommen sollte, Mutter und Schwester
vor dem unberechenbaren Dreizentnermann und seinen Wutanfällen zu schützen.
Instinktiv wollte ich Mutter damit wohl beweisen, wie gefährlich und untragbar
dieser Kerl für uns inzwischen geworden war. Wie eine Wildkatze stürzte
ich mich auf dieses nichtswürdige Scheusal von Mann und kämpfte leidenschaftlich
gegen den lächerlichen Möchtegern-Vater', der mittlerweile zu
meinem Erzfeind geworden war. Mit schwimmendem Blick starrte er mich an, während
seine Pupillen reichlich Mühe hatten, mich im Auge zu behalten. In solchen
Momenten registrierte ich triumphierend seine Handlungsunfähigkeit, was
mich nur noch mehr anstachelte, und meine grenzenlose Verachtung für diesen
Säufer verlieh mir nie gekannten Mut und Kampfesgeist. Mein Ziel, ihn unbedingt
loszuwerden, kannte keine Grenzen mehr!
Mein Hass auf Harald nahm mit der Zeit ungeahnte Formen an. Wenn ich mit ihm
im selben Raum saß, war die Spannung zwischen uns fast körperlich
spürbar, als wären wir beide ständig kurz davor, uns gegenseitig
wie wilde Tiere anzufallen. War er nüchtern, schikanierte er mich mit ständig
lauernden Blicken, verfolgte jede meiner Bewegungen, als führte er etwas
Bedrohliches im Schilde. Diese unverhohlene Art des Begaffens war mir schier
unerträglich! Haralds Schweinsäugelein schienen allgegenwärtig
zu sein! Ich wünschte ihm inbrünstig den Tod für sein kleines,
stets präsentes zynisches Grinsen, wenn er mit Genugtuung feststellte,
dass er mich sichtlich nervös machte und er dadurch tatsächlich Macht
auf mich ausüben konnte. Ich revanchierte mich reichlich dafür und
ließ im Gegenzug keine Gelegenheit aus, mich heftig gegen seine unerträglichen
Anzüglichkeiten zur Wehr zu setzen, mit denen er versuchte, mich regelmäßig
mürbe zu machen. War ich länger als zehn Minuten im Bad, musste Harald
natürlich ausgerechnet dann auf die Toilette. Lackierte ich mir daraufhin
im Wohnzimmer die Fingernägel, lästerte er über den stechenden
Geruch und machte verächtliche Bemerkungen über mein Äußeres,
das in seinen Augen ohnehin sehr zu wünschen übrig ließ.
"Ha! Das kann auch der schönste Nagellack nicht ausgleichen!",
höhnte er und bedachte mich mit einem verächtlichen Blick. Das und
vieles mehr zählte zu den alltäglichen Bosheiten, denen ich ständig
ausgeliefert war. Mutter nahm es mit Gelassenheit. Ein gelegentliches "Jetzt
lass doch die Nanni auch mal in Ruhe!" war alles, was sie zu sagen hatte.
Sie wollte nicht wahrhaben, dass wir uns gegenseitig bis aufs Blut verabscheuten.
Meine kleine Schwester Susanne war inzwischen zu einem fröhlichen und hübschen
Kleinkind herangewachsen. Ich fungierte als ihre Lehrmeisterin, brachte ihr
das Laufen bei, das Aufstehen, das Treppensteigen. Sie hing sehr an mir, und
wenn sie zu Bett ging, erzählte ich ihr kleine lustige Geschichten, hielt
ihre kleine warme Hand und liebte dieses Mädchen, das wie durch ein Wunder
auf diese Welt gekommen war, innig. Zwischen uns beiden bestand von Anfang an
ein tiefes gefühlsmäßiges Band, eine Tatsache, die von Mutter
mit verwirrtem Erstaunen registriert wurde.
"Dass das Kind nur so sehr an dir hängt
?", als wäre
Geschwisterliebe etwas vollkommen Unnatürliches.
Einmal saßen wir zu Tisch. Es gab Nudelsuppe. Susanne, ohnehin ein zierliches
Kind, ein "schlechter Esser", hatte meist bei den Mahlzeiten keinen
richtigen Hunger, und man musste ihr gut zureden, damit sie aß. Harald
hatte am Vorabend wieder mal einen zu viel über den Durst getrunken und
befand sich in gereizter Stimmung, weil man ihn zum Essen extra geweckt hatte.
Nun suchte er buchstäblich nach einem willkommenen Anlass, um seine Aggressionen
an irgendjemand auszulassen. So fing er an, die Kleine zu quälen.
"Du isst jetzt die Suppe, sonst setzt es was!", schrie er sie an und
spuckte ihr in der Heftigkeit seiner Worte Speicheltröpfchen ins Gesicht.
Die Kleine blinzelte und wendete instinktiv das Gesicht von ihm ab, denn er
hatte dazu noch eine stattliche Fahne. Ich war schon in Alarmstimmung, ließ
ihn keinen Moment aus den Augen! Er sollte es ja nicht wagen, Susanne auch nur
anzurühren, dann würde er mich kennenlernen! Drohend baute er sich
jetzt vor dem Kind auf, um genauestens zu kontrollieren, ob sie auch richtig'
aß. Hier konnte er sich endlich in einer tyrannischen Vaterrolle gefallen
- etwas, was ihm bei mir stets verwehrt worden war - und seine erzieherischen
Machtgelüste an einem kleinen, wehrlosen Kind auslassen. Einige Minuten
lang beobachtete ich argwöhnisch die Szene und stand bereits in den Startlöchern,
die Hände bereits auf die Tischplatte gestützt, um jeden Moment eingreifen
zu können. Vor Empörung schlug mir das Herz bis zum Hals und ich konnte
kaum atmen vor verhaltener Wut auf Harald. Es bedufte nur einer winzigen Kleinigkeit
und ich würde auf ihn losgehen wie eine Tigerin.
Erneut schrie er die kleine Susanne an: "Du sollst jetzt essen, hab ich
gesagt! Verdammt!" Wieder brüllte er dem Kind ins Gesicht.
Ich kochte! Es war schier unerträglich. Im Hintergrund hörte man Mutter
nur beschwichtigend murmeln: "So iss halt dann die Suppe, Kind!"
Doch Susanne ekelte sich, konnte einfach nichts hinunterschlucken. Schon begann
sie zu würgen, doch es half nichts, sie musste die Suppe essen! Als sie
sich weiterhin standhaft weigerte und dafür die Suppe krampfhaft im Mund
behielt, anstatt sie zu schlucken, riss Harald der Geduldsfaden. Er holte aus
und schlug sie auf den Hinterkopf.
Dabei brüllte er: "Schluck sie jetzt runter!"
Von dem Schlag verschluckte sich Susanne so heftig, dass sie in den Teller spuckte,
wobei ihr die Suppennudeln in die Nase gerieten und sie plötzlich keine
Luft mehr bekam. Hilflos schnappte und hustete sie zugleich. Mutter rührte
sich nicht. Stur stand sie in der Ecke und tat, als wäre sie intensiv mit
ihrer Hausarbeit beschäftigt. Von ihr konnte ich also keine Unterstützung
erwarten. So musste ich eben selbst handeln!
Wutentbrannt sprang ich auf, schrie nun Harald an: "Du Unmensch! Wie kannst
du nur! Siehst du denn nicht, dass sie fast keine Luft mehr kriegt!" Ich
hob das Kind hoch, nahm sie auf den Arm und verließ mit ihr die Küche.
Im Hinausgehen zischte ich Harald noch ins Gesicht: "Du verdienst es gar
nicht, ein Kind zu haben, du ekelhafter Mensch, du!"
Da sprang er ebenfalls auf und stellte sich mit erhobener Hand drohend vor mich
hin.
Herausfordernd sah ich ihn mit zusammengekniffenen Augen ins rot glänzende
Gesicht. Ich fauchte: "Schlag ruhig zu, dann melde ich dich dem Jugendamt,
das schwöre ich dir! Und jetzt geh mir sofort aus dem Weg!"
Er ließ die Hand wieder sinken, starrte mich betroffen an. Susanne auf
dem Arm stieg ich die Treppe hinauf, ehe ich mich in meinem Zimmer mit ihr einschloss.
Laut fiel unten die schwere Haustür ins Schloss. Harald machte sich wieder
einmal in Richtung Kneipe auf den Weg, um seinen Restalkohol aufzufrischen!
Von dieser Stunde an hasste und verachtete ich diesen Grobian nur noch mehr.
Denn sich an einem kleinen Kind zu vergreifen war wohl das Verachtungswürdigste,
was ich kannte! Ich wusste, irgendwann würde ich diesem Kerl endgültig
das Handwerk legen!
Gleichzeitig triumphierte ich innerlich, wenn es mir gelang, ihn wenigstens
für eine Weile mundtot zu machen, ihn gehörig aus der Fassung zu bringen.
Dann war ich glücklich und stolz und glaubte, wieder einmal als echte Heldin
aus der Situation hervorgegangen zu sein. Für besonders mutige Einsätze
am betrunkenen, randalierenden Harald wurde ich von Mutter geradezu bewundert:
"Das hast du aber gut gemacht! Er hatte ja richtig Angst vor dir! Ich bin
ja so froh, dass du da warst! Alleine wäre ich nicht gegen ihn angekommen!",
versicherte sie mir nach solchen Zwischenfällen.
Und ich war stolz darauf, solche Art von Belobigung von ihr erhalten zu haben.
Sie würde sich immer auf mich verlassen können! Ich würde die
beiden jederzeit vor diesem üblen Tyrannen beschützen, das schwor
ich mir. Mutter erging es wie mir. Wir konnten gar nicht fassen, wie sich Harald
in den letzten Jahren verändert hatte! Wie konnte ein Mensch sich nur derart
verstellen?
Quasi als Anerkennung für meine Hilfe informierte Mutter mich detailliert
über seine jüngsten Schandtaten, Beleidigungen und nächtlichen
Übergriffe, damit ich auch stets über alles genau im Bilde sein sollte,
etwas, was sehr wichtig für mich war, wenn ich Mutter effektiv beschützen
wollte. Dies verlieh mir zusätzlich den Status einer guten Freundin'.
Ich wurde dadurch zur Verbündeten, was ich als eine große Auszeichnung
wertete!
Doch Mutter ahnte nicht, was sie damit bei mir anrichtete! Meine Angriffslust
gegenüber Harald wuchs zusehends, und ich wartete nur darauf, ihn, wenn
er betrunken nach Hause kam, herauszufordern, um auf diese Weise meinem stets
gierigen Hass neues Leben einzuhauchen! Dann nutzte ich seine alkoholbedingte
körperliche Benommenheit aus und ging auf ihn los wie ein kleiner frecher
Köter, der einen überfütterten Rottweiler anspringt.
Die Geldnot war inzwischen alltäglich geworden, weil ganze Stangen an Zigaretten,
wöchentlich bis zu vier Kästen Bier und tägliche Fleischportionen
den Geldbeutel schnell schmal werden ließen. Oft reichte es nicht mehr
für die wichtigsten Grundnahrungsmittel. Eines Tages konnte Mutter nicht
einmal mehr eine Tüte Salz kaufen und musste ihrem Ehemann das Essen völlig
ungesalzen vorsetzen. Trotz seines schweren Rausches schmeckte er sofort, dass
etwas fehlte, und er begann sofort, unflätig herumzubrüllen.
Er beschimpfte Mutter: "Was ist los mit dir? Kannst nicht kochen, und sonst
ist auch nicht viel mit dir los, weiß der Teufel!", lallte er und
wollte gar nicht mehr aufhören, sie zu erniedrigen und zu beleidigen.
Mutter reagierte nicht.
Da sprang er auf und torkelte hinaus ins Wohnzimmer, wo Mutter schweigend in
der Ecke saß. "Was bist du denn überhaupt für ein Weib?
Pfui Teufel! Was hab ich denn da nur geheiratet! Ich hätte Junggeselle
bleiben sollen!", keifte er und der Speichel lief ihm aus den Mundwinkeln
heraus.
Das reichte! Jetzt kam Leben in mich! Ich sprang auf und ging drohend auf ihn
zu. Dann baute ich mich vor ihm auf, blickte verächtlich auf ihn nieder
und stieß ihn mit einer ruckartigen Handbewegung in den nächsten
Sessel, wo er völlig verdutzt sitzen blieb und verdattert vor sich hin
starrte.
"He du! Du elender Versager! Was schreist du denn hier eigentlich herum?
Sieh dich doch mal an! Du bist doch nur ein jämmerliches, ständig
betrunkenes Subjekt, das nicht einmal seine Familie anständig ernähren
kann! Gib Mutter gefälligst von deinem versteckten Geld, damit sie uns
Lebensmittel kaufen kann. Sie wird nicht mehr fertig damit, dein gieriges Maul
zu stopfen! Oder hast du etwa alles schon versoffen, hä?"
Als keine Reaktion von ihm erfolgte, ging ich in die Küche und begann den
Tisch abzuräumen, seinen Teller mit dem Essen, das er nicht angerührt
hatte. Nach anfänglichem Erstaunen über meine Dreistigkeit kam endlich
Bewegung in Harald. Wankend stand er aus dem schweren Sessel auf und packte
den großen gläsernen Aschenbecher aus Bleikristall, der auf dem Wohnzimmertisch
stand. Dann warf er den schweren Gegenstand blitzschnell in meine Richtung.
Nicht mal schlecht gezielt für einen Trunkenbold!, dachte ich in grimmiger
Anerkennung. Nur um ein Haar verfehlte das Geschoss meinen Kopf und landete
klirrend in einer Ecke des verwinkelten, schwer einsehbaren Treppenhauses, wo
es, wie sich später zeigte, unbemerkt in der Mitte entzweigebrochen war.
Wohl in der Absicht, seinen Fehlwurf zu wiederholen, wankte Harald hinaus auf
den schlecht beleuchteten Flur. Dort sah er sein Wurfgeschoss scheinbar unversehrt
in der Ecke liegen. Mühsam das Gleichgewicht haltend bückte er sich
nach dem Ungetüm von Aschenbecher und griff, ohne es zu ahnen, mitten in
die exakt in zwei Hälften zerbrochenen messerscharfen Scherben. Plötzlich
stoppte Harald mitten in der Bewegung, war wie erstarrt. Irgendetwas musste
geschehen sein. Die Sekunden verstrichen und er rührte sich nicht. Ich
wartete, versuchte vergeblich an seinem breiten Rücken vorbei, in den düsteren
Hausflur zu schauen. Als er sich schließlich aufrichtete und in die Küche
stolperte, sah ich seine böse Verletzung. Jetzt erst begriff ich, dass
er sich am Aschenbecher geschnitten haben musste. Aus seiner Handfläche
sickerte eine dunkelrote Flüssigkeit, bildete einen kleinen roten See darin.
Als Harald das Blut sah, verfiel er in völlige Apathie, setzte sich auf
einen Stuhl und stierte wie hypnotisiert auf seine verletzte Hand, die er nun
absichtlich hinabhängen ließ. Patt, patt, patt, tropfte es unablässig
auf den Küchenboden.
Schnell nahm ich meine kleine Schwester beiseite, die draußen gespielt
hatte und soeben ins Haus gekommen war. Keinesfalls sollte sie diesem Anblick
ausgesetzt werden. Mutter versuchte indes, Harald zu verbinden. Doch er wollte
das nicht, zog es vor, weiter zu bluten. Schnell lief sie zur nahen Rot-Kreuz-Leitstelle.
Ein Telefon besaßen wir damals noch nicht. Selbst als zehn Minuten später
der eingetroffene Sanitäter in der Küche stand und ihn ermahnte: "So
lassen Sie sich doch verbinden! Sie verlieren recht viel Blut. Das muss unbedingt
genäht werden
!", reagierte Harald immer noch nicht. So musste
der Krankenwagen unverrichteter Dinge wieder abfahren. Man könne ihn nicht
zwingen, sich helfen zu lassen, erklärte er uns.
Mutter war kreidebleich und meinte tonlos: "Dann soll er doch machen, was
er will! Jedenfalls sehen wir nicht zu, wie er hier langsam verblutet!"
Kurz entschlossen nahm sie Susanne an der Hand und forderte mich auf, mit ihr
das Haus zu verlassen. Aus Angst vor möglichen weiteren Ausfällen
entschied sie, die nächsten Stunden bis zum Abend bei Tante Helene Zuflucht
zu suchen, bis sich die Situation wieder beruhigt hatte. Wie es weitergehen
sollte, wussten wir in diesem Moment noch nicht. Für meine Begriffe gab
es jetzt nur noch eine Alternative für uns drei: Wir mussten diesen Unmenschen
verlassen, uns einfach irgendwo eine billige Wohnung suchen! Nach dieser grässlichen
Szene kam etwas anderes für uns ohnehin nicht mehr in Frage. Haralds Hang
zum maßlosen Trinken würde sicher nicht abnehmen, im Gegenteil! Irgendwann
würde noch etwas viel Schlimmeres geschehen, etwa einen von uns verletzen!
Warum nur hatte Mutter ihn so schnell geheiratet, war mit ihm in diese verwünschte
Stadt gezogen, wo alles Unglück erst seinen Anfang genommen hatte? Jetzt
lebten wir in seinem Haus. Unser Häuschen auf dem Lande besaßen wir
ja längst nicht mehr! Nichts von dem ganzen Geld aus dem Verkauf war mehr
übrig geblieben, um uns eine neue Zukunft aufzubauen. Es war schier ausweglos!
Inzwischen hoffte ich, Harald möge doch schnell verblutet sein, damit wir
endlich in Ruhe leben konnten ohne seine ständigen Übergriffe. Ich
befürchtete außerdem seelische Schäden bei der kleinen Susanne,
falls sich solche abartigen Vorkommnisse wie heute wiederholten.
Bei meiner Tante versuchten wir uns den ganzen Nachmittag von den furchtbaren
Vorfällen abzulenken, was uns natürlich nur schwer gelingen wollte.
Lediglich meine kleine Schwester spielte ausgelassen mit Tante Helenes fast
gleichaltrigen Tochter im Garten. Ich hingegen hatte ständig den blutenden
Harald vor Augen, wie er dasaß und seiner Hand beim Bluten zusah, und
ich fragte mich, was er wohl in der Zwischenzeit angestellt haben mochte. Ich
fürchtete mich vor dem, was heute und in Zukunft alles auf uns zukam. In
meinen Augen war er inzwischen zum gefährlichen Geisteskranken geworden,
ein heilloser Säufer, der uns alle noch ins Unglück stürzen würde,
falls wir weiterhin bei ihm blieben.
Erst gegen Abend wagten wir uns wieder heim und stellten beim Betreten des Hauses
angewidert fest, dass das ganze Erdgeschoss blutverschmiert war. Offenbar hatte
Harald, nachdem er überall mit Blut an Wände und Spiegel Parolen wie
"Verflucht!" geschrieben hatte, das Haus verlassen. Wir wussten nicht,
wo er sich im Augenblick aufhielt. Mutter machte sich, für mich völlig
unbegreiflich, plötzlich Sorgen um ihn und fragte sich ständig, wie
er wohl ganz allein mit seiner tief aufgeschnittenen Hand zurechtgekommen war.
Meiner Meinung nach hatte er es überhaupt nicht verdient, dass man sich
auch nur eine Minute um ihn sorgte! Ich hoffte nur, er möge erst dann zurückkommen,
wenn seine Wut verflogen und er vollkommen nüchtern wäre. Meinetwegen
brauchte er überhaupt nicht mehr nach Hause zu kommen. Auf den Gedanken,
dass Mutter womöglich Gefühle für ihn hegte und sich nur deshalb
Sorgen um ihn machte, verfiel ich nicht eine Sekunde lang. Ich war wohl zu jung,
um zu verstehen, dass man seine Gefühle nicht einfach abschalten konnte,
selbst dann nicht, wenn es sich um einen maßlosen Trinker handelt.
Das ganze Haus roch streng nach Blut. Wohin man auch blickte, überall konnte
man Blutspritzer entdecken. Man hätte tatsächlich den Eindruck haben
können, hier wäre so etwas wie ein Kapitalverbrechen geschehen! Schnell
brachte ich Susanne ins Bett, wo sie nach der gewohnten Gute-Nacht-Geschichte
schnell einschlief. Womöglich waren die Ereignisse doch nicht völlig
spurlos an ihr vorübergegangen. Ich war sicher, dass Kinder es sehr genau
spürten, wenn schlimme Dinge passieren, und die Erwachsenen merken es nicht
einmal. Ein paar Minuten lang betrachtete ich den kleinen schlafenden Engel.
Die goldenen Löckchen umspielten das süße Kindergesicht und
die kleine Brust hob und senkte sich im Schlaf. Ein goldener Kranz langer Wimpern
bewachte die geschlossenen Lider. Es war Haralds Tochter und er? Er war so ein
mieser, undankbarer Vater! In diesem Moment schwor ich, Susanne stets zu beschützen,
ganz gleich, was auch kommen mochte
Mutter putzte bis spät in die Nacht hinein, schwitzte und weinte gleichzeitig
dabei leise vor sich hin, sodass ich nicht unterscheiden konnte, ob es sich
um Schweiß oder um Tränen handelte, wenn sie sich ständig das
Gesicht wischte. So gut ich konnte, half ich ihr beim Saubermachen. Unzählige
Lappen wanderten direkt in die Mülltonne, weil sie vom Blut nur so troffen.
Wie besessen scheuerten wir bei weit geöffneten Fenstern, doch der widerliche
Blutgeruch hing noch tagelang im Haus. Die hohen Wände im Treppenaufgang
zeugten noch Jahre danach von dem Vorfall, denn einen Maler konnten wir uns
nicht leisten.
Irgendwann in der Nacht kehrte Harald mit fachmännisch verbundener Hand
nach Hause zurück. Wortlos ging er zu Bett. Von diesem Tag an änderte
sich Mutters Gesinnung, als fürchtete sie, die Situation könnte irgendwann
völlig außer Kontrolle geraten. Mit verschlossenem Gesichtsausdruck
befahl sie mir in halb flehendem, halb herrischem Ton, mich in Zukunft nicht
mehr einzumischen. Kam Harald betrunken heim, ging ich ihm fortan gezielt aus
dem Weg. Trotzdem beobachtete ich auch künftig sein Verhalten mit Skepsis.
Wurde er ausfallend und angriffslustig, brachte ich ihn zur Raison, indem ich
ihm mit der Polizei drohte, was ihn sofort einschüchterte. Das ließ
ich mir nach wie vor nicht nehmen. Schließlich konnte ich nicht tatenlos
zusehen, wie er Mutter und Schwester mit seinen Gewaltakten verängstigte.
Entweder verhielt er sich ab da entsprechend ruhig oder er ging einfach wieder
weg, um sich erst wieder in den frühen Morgenstunden zurück ins Haus
zu schleichen, wenn alles schlief. Nicht selten wartete Mutter die halbe Nacht
auf ihn. Ich wusste, lang anhaltende heftige Streitereien spät nachts,
in deren Verlauf sie sich gegenseitig die schlimmsten Ausdrücke an den
Kopf warfen, würden folgen. Auch ich schlief in solchen Nächten nicht,
lauschte nach unten, um Mutter bei eventuellen körperlichen Übergriffen
zu beschützen, auch wenn sie es neuerdings nicht mehr haben wollte.
Tags darauf konnte Harald sich wie immer an nichts erinnern, und es wurde so
getan, als sei nichts Schlimmes vorgefallen. Nur Mutters eisige Miene und ihr
verkniffener Mund ließen von den Geschehnissen des Vortages ahnen. Wundersamerweise
normalisierte sich die Lage aber schnell wieder. Ganz selbstverständlich,
als handelte es sich um ein unausgesprochenes Gesetz, das nur ich nicht durchschauen
konnte, fiel vonseiten meiner Mutter kein einziges Wort mehr über die jüngsten
Ereignisse. Für mich vollkommen unbegreiflich, weil in meinen Augen ungerecht,
schien Haralds verachtungswürdiges Verhalten wie ganz von selbst und innerhalb
von nur wenigen Stunden vergessen und vergeben. Und das bei meiner Mutter, die
so nachtragend war, wenn es sich um andere handelte.
Warum nur lässt sie sich das alles gefallen?, dachte ich verzweifelt, und
ich musste feststellen, dass Mutter bei Harald völlig andere Maßstäbe
ansetzte als bei mir. Er durfte sich offensichtlich alles erlauben! Ich aber
konnte nicht einfach vergessen, geschweige denn sein skandalöses Verhalten,
verursacht durch sein unkontrolliertes Trinken, verzeihen. Ich war empört,
und jede Faser in mir rebellierte gegen diesen groben Kerl, der uns drei nur
Unglück und Terror brachte. Ich fand, er hatte weder Frau noch Kind verdient!
Dieser ständige Stimmungswechsel und Mutters Unfähigkeit, sich von
diesem heillosen Trinker zu trennen, konnte ich nicht mehr nachvollziehen. Ich
vermochte in meinen Augen keinen Grund zu finden, warum sie an der Seite dieses
nichtswürdigen Menschen noch ausharrte. Doch es war ihre ausdrückliche
Anordnung, Harald nicht mehr zu provozieren, um keine weiteren Zwischenfälle
mehr heraufzubeschwören. Lieber unternahm sie überhaupt nichts mehr!
Ich fügte mich widerwillig, konnte es aber trotzdem nicht lassen, Mutter
unermüdlich gegen ihn einzunehmen. Der Wunsch, Harald loszuwerden, manifestierte
sich zusehends in mir. Das Leben hätte so schön sein können,
ohne dieses Scheusal, das mit seiner Unberechenbarkeit Mutter und Schwester
immer wieder aufs Neue maßlos ängstigte! Sie musste es doch irgendwann
begreifen, musste sich einfach nur von ihm trennen, und zwar endgültig!
Das schien für uns drei der einzig richtige Weg zu einem friedvollen Leben
ohne Streit und schlimme Szenen zu sein! Ich wollte Mutter, falls sie sich dazu
durchringen könnte, Harald zu verlassen, nach allen Kräften unterstützen
und ihr helfen, wo ich nur konnte. Gerne würde ich ihr auch jeden Pfennig
abtreten, den ich während meiner Lehre verdiente. Für sie wollte ich
gerne auf alles verzichten, nur damit wir drei endlich wieder glücklich
leben konnten!
Doch es änderte sich nichts. Kam Harald, wie von mir nicht anders erwartet,
immer öfter bereits am hellen Tag torkelnd heim, konnte ich mich einfach
nicht beherrschen und begann erneut, meiner Meinung über ihn rückhaltlos
Luft zu machen.
Lauthals pöbelte ich über seinen unmäßigen Alkoholkonsum.
"Schau ihn dir doch nur mal an!", rief ich. "Pfui! Der ist ja
schon wieder sternhagelvoll! Und das am helllichten Tag! Dieses nutzlose Subjekt!
So was will nun ein Familienvater sein! Pah! Dass ich nicht lache!"
"Sei doch still!", zischte mich Mutter an. Sie hatte sich offenbar
bereits geschlagen gegeben, sich in ihr Schicksal gefügt, wollte sich gar
nicht mehr wehren und sich nicht mehr von mir helfen lassen!
Stattdessen geriet ich selbst mehr und mehr in die Position der Außenseiterin,
derjenigen, die immer nur Unruhe stiftete.
Weil ich es aber nicht lassen konnte zu hetzen und einfach keine Ruhe geben
wollte, verkündete sie mir eines Tages in eisigem Tonfall: "Jetzt
hör mir mal gut zu, Mädel! Wenn du dich nicht mit ihm vertragen kannst,
dann ist es wohl das Beste, wenn du baldmöglichst hier ausziehst! Denn
merk dir eins: Ich bin schließlich mit ihm verheiratet, und daran kann
ich nun mal nichts ändern! Hast du verstanden?"
Diese wahrhaft unmissverständlichen Worte trafen mich wie ein Peitschenhieb!
Nun wusste ich zweifellos, woran ich war! Mutter wollte offenbar eher auf ihre
Tochter verzichten als auf ihren trunksüchtigen Mann, der die ganze Familie
schikanierte und allen das Leben zur Hölle machte! Mein ganzes Engagement,
die vielen Machtkämpfe mit Harald erschienen mir angesichts dieser neuen
Situation geradezu lächerlich und im Nachhinein völlig unangebracht.
Wie Schuppen fiel es mir plötzlich von den Augen und ich sah die ganze
Situation in einem völlig anderen Licht. Jetzt schämte ich mich plötzlich
für meine offenbar völlig unerwünschten Einmischungs-versuche
in Mutters Ehe, von der sie mir zwar viel erzählt hatte, über die
ich aber im Grunde nichts wusste. Dumpf ahnte ich mit meinen siebzehn Jahren,
dass es da noch einen Bereich geben musste, worin mich Mutter nicht eingeweiht
und von dem ich nicht die leiseste Ahnung hatte: Mutter liebte Harald, und nur
deshalb blieb sie bei ihm! Ein fataler Umstand, den ich in meiner jugendlichen
Naivität natürlich völlig außer Acht gelassen hatte! Was
hätte es auch genutzt, wenn sie es mir unverblümt gesagt hätte
- ich hätte es ohnehin nicht verstanden! Einen Menschen wie Harald zu lieben
wäre für mich mit dem Versuch vergleichbar gewesen, ein Krokodil zu
lieben!
Nun hatte meine eigene Mutter von einer Stunde zur anderen unmissverständlich
Partei gegen mich ergriffen, scheinbar endgültig vor Harald kapituliert
und erwartete nun dasselbe von mir. Diese Erkenntnis und die tiefe Enttäuschung
über diesen jähen Sinneswandel, das niederschmetternde Gefühl,
in meinem Elternhaus ab sofort fehl am Platze zu sein, brachten mich innerhalb
kürzester Zeit zu dem wilden Entschluss, auf der Stelle fortzugehen und
dieser verhassten Stadt, die mir ohnehin nie eine richtige Heimat gewesen war,
für immer den Rücken zu kehren. Wenn mich auch der Gedanke an die
Trennung von meiner kleinen Schwester sehr schmerzte und ich das Gefühl
hatte, sie damit zu verraten, musste ich doch endgültig einsehen, dass
die Lage allem Anschein nach hoffnungslos war. Mutter würde nie den Mut
aufbringen, mit ihren Kindern eigene Wege zu gehen. Zu viel hatte sie hier investiert,
um jetzt einfach aufzugeben. Das Blatt hatte sich gewendet. Völlig überraschend
und ganz entgegen meinen Plänen war nun ich selbst diejenige, die das Feld
zu räumen hatte!
Bis zu meinem zehnten Lebensjahr lebte ich allein mit meiner Mutter. An Vater,
der ein Vierteljahrhundert älter gewesen war als Mutter und überraschend
durch einen schweren Herzinfarkt dahingerafft wurde, als ich noch ganz klein
war, erinnere ich mich nur dunkel. Er musste ein unendlich gütiger Mann
gewesen sein, der mich grenzenlos geliebt und eine große Zukunft für
mich geplant hatte. Er wollte mich studieren lassen, mir alle Wege ebnen, um
auch als Mädchen beruflich erfolgreich sein zu können. Leider konnte
dies alles nicht mehr erfüllt werden, denn er starb unbegreiflicherweise
ohne jede finanzielle Absicherung für seine kleine Familie. Zwar lebten
wir im eigenen Häuschen, aber ohne sonstige Mittel. Mutter erhielt nur
eine minimale Witwenrente und musste sehr sparen, um uns alleine durchzubringen
und darüber hinaus das Häuschen zu erhalten.
Als Alleinerziehende war sie mit mir sehr streng. Sie meinte wohl, mir den Vater
ersetzen zu müssen und mich nur so optimal auf das harte Leben vorbereiten
zu können. Sie ließ nichts durchgehen, war immer ernst und nachdenklich.
Und obwohl sie doch am eigenen Leib schmerzhaft erfahren hatte, wie es ist,
geschlagen zu werden, prügelte sie mich in Anfällen von ohnmächtiger
Wut grün und blau, wenn ich etwas angestellt hatte. Immer waren es belanglose
Vorkommnisse, um derentwillen sie mich schlug. Einmal ließ ich viele große
Kiesel in eine Regeltonne fallen, ein anderes Mal spuckte ich eine mir verhasste
Suppe heimlich in die Toilette und log, ich hätte sie aufgegessen. Natürlich
ertappte sie mich bei der harmlosen Schummelei. Die Strafe war als blaue Striemen
und Flecken noch tagelang zu sehen.
Dann ging ein großer Papierdrachen zu Bruch, den mein Vater eigens für
mich gebaut und für später aufbewahrt hatte, wenn ich erst einmal
groß genug dafür sein würde. Ich bettelte so lange, bis ich
ihn haben durfte, doch musste ich Mutter hoch und heilig versprechen, gut auf
den für mich viel zu großen Drachen aufzupassen und ihn heil wieder
nach Hause zu bringen. Stolz zeigte ich ihn meinen Spielkameraden.
"Der ist doch viel zu groß für dich kleiner Knirps!", riefen
sie.
"Nein! Bitte nicht kaputt machen!", flehte ich vergeblich mit meinem
dünnen Stimmchen, doch die wilden Nachbarsjungen hatten mit einem "Na,
lass doch mal sehen!" nur gelacht, hatten sich ihn geschnappt und waren
mit ihm quer über die Wiese gejagt, fest entschlossen, ihn in die Höhe
zu bekommen. Doch der Wind war sehr unberechenbar an diesem Tag. Eine plötzliche
Flaute ließ das zerbrechliche Fluggerät, das mit glänzend rotem
und blauem Drachenpapier bespannt, einem lachenden Gesicht bemalt war und einen
prächtigen, langen Schweif hinter sich hergezogen hätte, gnadenlos
abstürzen - wäre es doch nur etwas länger in der Luft geblieben!
Als ich mich erst gegen Abend mit den kläglichen Überresten des ehemals
schönen Papiervogels nach Hause wagte, versuchten meine kleinen Fingerchen
auf dem Heimweg vergeblich, die gebrochenen Stäbe zusammenzufügen
und die heillos verknotete Schnur zu entwirren. Für diesen Vertrauensmissbrauch
bekam ich von Mutter arge Schläge, an die ich mich noch heute erinnere.
Die Empörung über die Ungerechtigkeit, die ich jedes Mal empfand,
war grenzenlos. Denn nie waren es wirklich schlimme Dinge, die ich mir hatte
zuschulden kommen lassen, das wusste ich, obwohl ich nur ein Kind war. Mutter
nahm große hölzerne Kochlöffel, damit mir die Prügelstrafe
auch lange in Erinnerung bleiben sollte. Während sie auf mich eindrosch,
pflegte ich sie direkt anzusehen, zog nur die Mundwinkel vor Empörung nach
unten und gab keinen einzigen Schrei von mir, hob nicht einmal die Hand zur
Abwehr.
"Du verstocktes, kleines Luder, du!", schrie sie wie irre, während
ihre Stimme sich überschlug. Keuchend prügelte sie mit der anderen
Hand weiter, bis sie keine Kraft mehr hatte und irgendwann, wenn ihr Wutanfall
verebbt war, endlich zur Besinnung kam. Eine andere Art, mich für Verfehlungen
zu strafen, bestand darin, mich tagelang nicht anzusprechen. Mit schweigenden,
verkniffenen Lippen und eisigem Blick versorgte sie mich wortlos und gleichermaßen
lieblos wurde mir mein Essen vorgesetzt. Ich war in die dunkelste Ecke der Küche
verbannt worden, wo ein kleines Tischchen stand, an dem ich fortan zu essen
hatte. Nur daran, dass sie die verhasste Suppe demonstrativ überschwappen
ließ, wenn sie sie vor mich hinknallte, erkannte ich den mühsam verhaltenen
Zorn, den sie immer noch gegen mich hegte. Kein Zubettbringen und erst recht
keinen Gutenachtkuss gab es für mich in solchen Strafzeiten, die mir endlos
lang erschienen. In diesem dumpfen Vakuum zu leben, schmerzte mich viel mehr,
als Prügel zu bekommen, die zwar körperlich schmerzten, aber umso
schneller wieder verebbten. In diesen Stimmungseiszeiten, die für mich
schier unerträglich waren, sehnte ich mich brennend nach einer kleinen
Geste der Zuneigung von ihr, einem auch noch so kurzem Streicheln ihrer Hände,
die manches Mal so grausam sein konnten! Doch nach Prügelstrafen hatte
sie mich stets tröstend in den Arm genommen, mich gestreichelt und reuevoll
versucht, die Schläge mit leise gemurmelten Beschwichtigungsreden zu rechtfertigen,
mir irgendwie zu erklären, warum die Strafe verdient und somit unvermeidlich
war. Diese zärtliche Geste sollte mich die Hiebe vergessen machen und ich
genoss diese seltenen Liebesbeweise. Auch wenn mir noch der Körper überall
dort brannte und pochte, wo sie geschlagen hatte, verzieh ich ihr in diesem
Moment alles und liebte sie heiß und innig.
Wenigstens trinkt sie nicht wie meine Onkel und Tanten
!, dachte ich.
Hauptsache, ich wurde wieder geliebt von ihr, dieser strengen und unduldsamen
Frau, die nun einmal meine Mutter war. Dafür war ich bereit, nahezu alles
zu tun! Sie zu enttäuschen war wirklich das Letzte, was ich wollte.
Als ich zehn Jahre alt wurde, änderte sich mein Leben grundlegend. Durch
Vermittlung meines Onkels lernte Mutter eines Tages Harald kennen, der ihr als
arbeitsamer und lustiger Mann empfohlen worden war. Trotz seiner fast vierzig
Jahre war er immer noch Junggeselle und lebte mit seiner alten Mutter zusammen
in einem kleinen Häuschen im nahen Lüneburg. Entsetzt stellte ich
fest, dass Harald ebenfalls Bier trank, und ich fing an zu glauben, dass anscheinend
alle Männer Bier trinken mussten. Im Laufe der Zeit erschien es mir jedoch
als einigermaßen normal, denn zu Anfang konnte ich bei Harald keine der
mir bekannten Anzeichen von Betrunkensein feststellen. Er roch auch nicht wie
der Onkel nach Alkohol, schwankte und lallte selbst dann nicht, wenn er soeben
erst mehrere Flaschen Bier getrunken hatte. Stattdessen war er lustig und erzählte
immer irgendwelche spannenden Geschichten, machte Witze und konnte mit heller,
klarer Stimme schöne Lieder singen. Harald war ganz anders als andere Männer.
Ich konnte ihn sofort gut leiden.
Harald besuchte uns täglich. Er machte sich nützlich, wo er nur konnte,
mähte das hohe Gras, hackte und sägte Unmengen Brennholz, schnitt
die verwilderten Hecken, die längst ihre vorwitzigen Triebe in alle Himmelsrichtungen
ausgestreckt hatten. Danach reparierte er unser rostiges Gartentor, das wie
flügellahm nach einer Seite aus den Angeln hing, strich es neu und kümmerte
sich danach um den kaputten Zaun zwischen Nutz- und Ziergarten. Nach diesen
Arbeiten trank er an den Abenden immer Bier. Auch Mutter gönnte sich zu
meinem Erstaunen ab und zu ein Glas mit ihm zusammen, lachte dann viel und tauschte
heimlich Zärtlichkeiten mit ihm aus, wenn sie glaubte, dass ich gerade
nicht hinsah. Ich war froh und erleichtert über diese positive Wandlung.
So kannte ich sie kaum, so fröhlich und unbekümmert! Und ich fand
jetzt, dass sie eine wirklich schöne Frau war, wenn sie so verschmitzt
lachte und dabei den Kopf mit den dunklen Locken in den Nacken warf. Sie hatte
makellose schneeweiße Zähne, und wenn sie lachte, wirkte sie wieder
wie eine junge Frau, die sie im Grunde ja auch noch war. Nur die schwarze Trauerkleidung
und die strenge Miene hatten sie viel älter erscheinen lassen. Jetzt, im
Sommer, wurde sie schnell braun, trug endlich wieder helle oder geblümte
Kleider und wirkte dadurch viel freundlicher und sympathischer. Verstohlen und
bewundernd beobachtete ich sie, und ich nahm mir vor, als Erwachsene so zu sein
wie sie. Vergessen war die düstere Zeit, die ich allein mit ihr gelebt
hatte.
Abends saßen Mutter und Harald stundenlang zusammen, redeten viel und
schmiedeten Pläne. So war sie gottlob von mir und meinen harmlosen Streichen
abgelenkt und würde, so hoffte ich, künftig nicht mehr so streng sein.
Außerdem gab es jetzt Harald, der mich sicher beschützte, sollte
sie wieder einen ihrer Prügelanfälle bekommen. Er war immer nett zu
mir und erklärte mir viel über Tiere und die Natur, Dinge, die mich
sehr interessierten, wie etwa Vögel und Amphibien. Manchmal sangen wir
gemeinsam, und er lehrte mir die Melodien und Texte einiger seiner Lieder, denn
Harald begeisterte der Gedanke, dass ich Unterricht nahm im Schifferklavierspielen.
Er lobte mich und spornte mich an, viel zu üben, um noch besser zu werden.
Wir schienen wirklich eine glückliche Familie zu sein und alles war in
bester Ordnung, so glaubte ich.
Doch es kam alles ganz anders.
Als Haralds Mutter unerwartet starb, wollte er nicht weiter mit uns in unserem
Haus auf dem Lande wohnen bleiben. Vielmehr drängte er darauf, dass wir
zu ihm in sein Haus zogen, denn er hatte seiner alten Mutter am Sterbebett versprechen
müssen, wieder zu heiraten, das Elternhaus nicht verkommen zu lassen und
es zu bewohnen. Mutter heiratete Harald überstürzt, und es war nun
die Rede von Umzug. Mir war noch nicht klar, was das für mich bedeutete.
Zunächst war es mir gleichgültig, wo wir lebten. Hauptsache, es würde
sich an der guten Stimmung in der Familie nichts ändern. Als es aber dann
ernst zu werden schien mit dem Umzug, wollte ich nicht mehr wegziehen, fort
von meinem kleinen geheimnisvollen Wäldchen mit der großen Wiese
davor, auf der wir Kinder die Blumen der jeweiligen Jahreszeit pflückten
und über der hoch am Himmel die Lerchen sangen, dem kühlen Bach, in
dem wir Frösche fingen und uns die schmutzigen Füße badeten.
Das hieße ja Abschied nehmen von den Schulkameraden und von meiner besten
Freundin Karla mit ihrem langen, blonden Haar, dass ich ihr in unbeobachteten
Augenblicken oft aus den Zöpfen gelöst und so lange hingebungsvoll
gebürstet hatte, bis es wie flüssiges Gold in der Sonne glänzte.
Ich beneidete sie um ihr wunderschönes Haar, war doch mein eigenes, das
mindestens ebenso lang, aber dunkel und sehr lockig gewesen war, aus Gründen
der einfacheren Pflege kurz vor meiner Einschulung abgeschnitten worden. All
das und noch vieles mehr würde ich nun für immer verlieren, so wurde
mir erst jetzt bewusst!
Die Stadt machte mir außerdem Angst mit den vielen Autos und dem Lärm
und Gestank! Ich kannte sie nur zu gut von den Besuchen, die wir der Verwandtschaft
regelmäßig abstatteten, und war stets erleichtert, wenn wir nach
endlos langweiligen Stunden den Rückweg antraten. Ich würde wohl nie
ein richtiges Stadtkind sein! Ich liebte das Land, die Natur und die Tiere.
Dort, inmitten der unzähligen hohen Häuser, dicht an dicht gedrängt,
würde es bestimmt weder Frösche noch Grillen geben, die man hätte
beobachten und mit denen ich hätte spielen können. So beschloss ich
also, die Stadt und alles, was damit zusammenhing, ausgiebig zu hassen, und
hoffte, schon allein deshalb hier bleiben zu dürfen. Doch es half nichts!
Als die Erwachsenen mein betrübtes Gesicht sahen, lachten sie nur und meinten,
ich würde mich schon noch eingewöhnen.
Mitten im schönsten Landsommer zogen wir um. Vorbei an den wogenden Kornfeldern
und den rauschenden Bäumen, voll mit unzähligen, zwitschernden Vögeln,
und ich verstand die Welt nicht mehr! Traurig sah ich den Lerchen nach, die
ihr Abschiedslied hoch oben für mich sangen. Noch heute lebe ich in meinen
Träumen von der Erinnerung und der Sehnsucht nach der Idylle des Landlebens.
Und es wurde genauso schrecklich, wie ich es erwartet hatte! Das Häuschen
lag an einer viel befahrenen Hauptstraße, die, falls überhaupt, nur
unter erheblichen Gefahren für Leib und Leben überquert werden konnte!
Tag und Nacht rauschten und donnerten Autos und Lastwagen vorbei, und ich wunderte
mich, dass es überhaupt noch stand bei den ständigen Erschütterungen,
die man deutlich spüren konnte, wenn man nachts im Bett lag. Dann tasteten
die hellen Lichtkegel der vorbeifahrenden Autos unablässig die Wände
meines Zimmers ab, von einer Ecke zur anderen, als müssten sie sie ständig
aufs Neue sinnlos vermessen. Der inbrünstige Wunsch, die Autos mögen
doch endlich stillstehen, damit ich wie früher die Geräusche der Nacht
wahrnehmen konnte, wurde so übermächtig, dass ich in meinem Bett die
Luft anhielt, die Fäuste wütend ballte und mein Herz voll von trotzigen
Tränen war. Zu Hause auf dem Land hatten mich Grillengezirp und fernes
Hundegebell in den Schlaf gesungen. Hier gab es keine Tiere! Tot schien die
Stadt zu sein und doch voller bedrohlicher Unruhe! Viele düstere fremde
Möbel, Schränke sowie hässliche Gardinen vor den Fenstern bevölkerten
den hohen Raum, dessen Putz an der Decke eigenartige Muster und landkartenähnliche
Gebilde aufwies, aus denen selbst meine wirklich lebhafte Fantasie nicht schlau
wurde. Die alten Möbel verströmten einen muffigen Geruch, der mir
Kopfschmerzen machte. Darunter befand sich auch ein alter hässlicher Stuhl,
dessen Rückenlehne links und rechts als Abschluss grausige Männerköpfe
aufwies, die sich bei jedem Lichtstrahl, der ins Zimmer fiel, als verzerrte,
über die Wände huschende Schattenrisse abzeichneten. Das machte mir
zusätzlich Angst und Mutter musste nach einer schlaflosen Nacht den Stuhl
aus dem Zimmer nehmen. Harald aber lachte nur spöttisch, als er von meinen
nächtlichen Beklemmungen hörte. Dieser Spott war ein für mich
völlig neuer Zug an ihm, eine Eigenart, die ich an ihm noch hassen lernen
würde.
Seltsamerweise hatte sich mit der Ortsveränderung auch das Leben von uns
dreien irgendwie verändert. Es war so gut wie nichts mehr vorhanden von
der Lustigkeit und der Unbeschwertheit, die uns im Haus auf dem Lande begleitet
hatte. Vielmehr umfing uns nun eine unerklärliche Düsternis. Wir sangen
nicht mehr, und immer seltener wurde gelacht, stattdessen immer häufiger
gestritten, immer öfter fielen böse Worte oder wurden Türen laut
zugeschlagen. Mutter wurde viel zu spät klar, dass sie Harald zu überstürzt
geheiratet hatte. Sie hatte ihn ja kam gekannt! Nun zeigte er sich von einer
völlig anderen Seite! Aus seiner Junggesellenzeit hatte er sich zudem eigenartige
Gewohnheiten bewahrt, von denen er trotz seines neuen Ehestandes keinen Millimeter
abrückte und die erst jetzt, in seinem eigenen Haus, zutage traten. Mitten
in der Nacht verließ er wie selbstverständlich das Haus und kam erst
im Morgengrauen zurück. Dann wurde laut gestritten, wobei das Haus unter
den wilden Wortgefechten erzitterte. Irgendetwas Schlimmes war wohl mit uns
geschehen, seit wir in der Stadt wohnten. Woran es wirklich lag, wusste ich
nicht. Ich gab mich der Illusion hin, dass Mutter irgendwann sicher einsah,
dass vorher alles viel besser gewesen war. Inständig hoffte ich, wir würden
wieder zurückgehen aufs Land und es möge sich unser Leben wieder zum
Guten wenden. Doch unbegreiflicherweise blieb alles, wie es war.
In der neuen Schule gefiel es mir auch nicht. Dort gab es überwiegend eingebildete
Mädchen, die bereits Petticoats und Stöckelschuhe trugen und mich
als eine nach Kuhstall stinkende Landgöre bezeichneten. Hinter vorgehaltener
Hand tuschelten sie gehässig über mich. Kleinlaut brachte ich ein
einziges Mal zur Verteidigung hervor, dass ich noch nie im Leben einen Kuhstall
von innen gesehen hätte. Doch das wollten sie erst recht nicht glauben
und lachten mich aus. Meine Zensuren wurden zusehends schlechter. Sogar in Deutsch,
das immer mein Lieblingsfach gewesen war und in dem ich stets mit brillanten
Aufsätzen geglänzt hatte, sackte ich ab auf eine jämmerliche
Vier. Ich schämte mich, kam mir vor wie ein unwürdiger Wurm und verlor
mein ganzes Selbstvertrauen. Keines der Mädchen wollte sich mit mir anfreunden.
Nach einem weiteren hässlichen Zwischenfall, in dessen Verlauf ich einmal
mehr zum Gespött der ganzen Klasse geworden war, trat eines der Mädchen,
Margot war ihr Name, für mich ein. Sie stellte sich vor mich hin, breitete
einfach ihre Arme schützend vor mir aus und befahl den anderen, mich ab
sofort in Ruhe zu lassen. Von nun an hörten sie auf, mich zu schikanieren,
und Margot wurde meine beste Freundin, die jahrelang an meiner Seite blieb,
bis sich irgendwann unsere Wege durch die Wirrnisse des Lebens wieder trennten.
Die Jahre vergingen. In der Schule wurde ich allmählich wieder besser und
lernte, mich mit den Gegebenheiten in der Stadt zu arrangieren, ja sogar deren
Vorzüge kennenzulernen. Nicht zuletzt half mir Margot dabei.
Da trat erneut eine große Änderung in mein Leben: Mutter war in anderen
Umständen! Eine Tatsache, die für mich an ein Wunder grenzte. Ich
freute mich riesig und konnte es nicht mehr erwarten, bis das kleine Geschwisterchen
endlich auf der Welt sein würde. Schon jetzt bettelte ich darum, das Kleine
bei mir im Zimmer unterbringen zu dürfen. Ich war so glücklich, endlich
nicht mehr alleine sein zu müssen! Die Stimmung in unserer Familie hatte
sich im Laufe der letzten Zeit nicht gerade gebessert. Doch die Aussicht, ein
Geschwisterchen zu bekommen, versetzte mich in den festen Glauben, dass sich
nun doch alles wieder zum Guten wenden würde! Es konnte gar nicht anders
sein, so hoffte ich.
Harald hatte inzwischen stark zugenommen, rauchte Unmengen von Zigaretten und
trank Unmengen von Bier. Immer häufiger kam er bereits am Tage betrunken
nach Hause. Das Geld reichte vorn und hinten nicht mehr. Heftige Streitereien
und Konflikte waren an der Tagesordnung. Mutter sprach davon, sich von ihm trennen
zu wollen, weil er sich so verändert hatte.
"Irgendwann laufen wir einfach davon!", hörte ich immer öfter
aus ihrem Mund. Doch davon würde nun nicht mehr die Rede sein können.
Sie bekam schließlich ein Kind von ihm! Und außerdem, wohin hätten
wir gehen sollen? Unser kleines Haus auf dem Land war mittlerweile verkauft
und der Erlös für dringende Renovierungen an Haralds marodem Elternhaus
verwendet worden, das bereits vor dem Zweiten Weltkrieg erbaut worden und stark
reparaturbedürftig geworden war.
In dieses ungute Klima wurde nun meine kleine Schwester hineingeboren. Mutter,
bereits Anfang vierzig, fühlte sich durch diese späte Schwangerschaft
völlig überfordert. Sie erklärte bei jeder sich bietenden Gelegenheit,
Harald habe ihr das Kind mit Vorsatz "angehängt", nur um die
bereits drohende Scheidung nachhaltig abzuwenden. Was sie wirklich damit meinte,
verstand ich damals nicht. Wie in aller Welt konnte man denn nur versehentlich
ein Baby bekommen? Ich wusste sehr wohl, wie Kinder gezeugt wurden. Ich war
jedoch immer der Meinung gewesen, dass dazu beide gehörten, Mutter und
Vater! Jemandem ein Kind "anzuhängen" - wie in aller Welt konnte
denn das nur geschehen?
So lebten wir dahin, Tag um Tag. Immer noch fühlte ich mich fremd in diesem
engen schmalen Haus, mit seinen viel zu hohen Decken, die den Zimmern etwas
von einer Bahnhofshalle verliehen. Ich fürchtete mich in dieser hässlichen
Stadt, der unfreundlichen Umgebung, die durch die bösartigen Nachbarskinder
nicht gerade einladender auf mich wirkte. Das Haus stand zudem an einer sehr
belebten Kreuzung, die zu überqueren entweder viel Zeit oder aber viel
Mut erforderte. Ringsum ragten düstere hohe Häuser empor, wodurch
man sich in einer finsteren Schlucht wähnte. Jeder Versuch, den Blick in
die Ferne zu richten, war von vornherein zum Scheitern verurteilt! Bis zum heutigen
Tag spüre ich die Sehnsucht, stets in die Weite zu blicken über Wälder,
Felder und Wiesen bis hin zum Horizont. Wie sehr sehnte ich mich als Kind zurück
aufs geliebte Land! Dorthin, wo ich aufgewachsen war, da schien mir die Welt
noch heil, wo es keine Sorgen und Streit gab. Auch wenn mein Leben allein mit
der strengen Mutter nicht immer eitel Sonnenschein gewesen war, schien es mir
im Rückblick immer noch viel besser zu sein als dieses trostlose Leben
in der Stadt! Warum nur waren wir nicht dort geblieben? Alles wäre anders
gekommen, da war ich mir sicher. Hier fühlte ich mich wie eingesperrt,
ein großes Gefängnis, ein Labyrinth ohne Ausweg, so kam es mir jetzt
vor.
An einem düsteren Februarmorgen kam meine Schwester zur Welt, und ich weinte
vor Enttäuschung, weil ich von allem nichts mitbekommen hatte. Harald hatte
Mutter im frühen Morgengrauen in die Klinik gefahren, ohne mich zu wecken.
Die Wehen hatten eingesetzt. Ich hätte ihr so gern beigestanden, hätte
vielleicht ihre Hand gehalten, sie gestreichelt. Ich weinte bitterlich vor Angst,
ihr könnte etwas geschehen bei der Geburt. Doch alles verlief normal.
Das Neugeborene und Haralds zunehmende Leidenschaft für das Bier hielten
Mutter ununterbrochen auf Trab. Ich geriet mehr und mehr in den Hintergrund
und bekleidete eine Art stumme Statistenrolle. Meine Bedürfnisse und Probleme
wurden erst dann wahrgenommen, wenn unangenehme Vorkommnisse, wie beispielsweise
schlechte Noten, Mutters Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ansonsten war sie an
gute schulische Leistungen gewöhnt. Solange ich funktionierte, brauchte
sie sich um mich nicht zu kümmern. Deshalb war ich sorgfältig darauf
bedacht, stets eine gewisse Selbstständigkeit zur Schau zu stellen, um
nur ja keine besondere Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Darüber hinaus
wollte ich als bedürfnislos gelten. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen,
irgendwelche Ansprüche zu stellen oder gar um Zuwendung zu betteln. Mutter
hatte wahrlich schon genug Sorgen am Hals und ich wollte nicht auch noch einen
weiteren Beitrag zu der ohnehin schon gespannten häuslichen Atmosphäre
liefern! Neben ihren Problemen erschienen mir meine kleinen Sorgen lächerlich
unbedeutend und nicht der Mühe wert, überhaupt erwähnt zu werden.
Vorübergehende Schwierigkeiten in der Schule behielt ich sorgsam für
mich, denn ich galt als klug, und das wollte ich auch nicht ändern. Ich
suchte mir Hilfe, wenn ich etwas nicht verstand und mogelte, wenn nötig,
auch ungeniert. Wurde doch einmal einer meiner Fehltritte bekannt, zog das stundenlange
Vorhaltungen nach sich, mit denen Mutter die Rolle der pflichtbewussten Erzieherin
vor Harald recht übertrieben zur Schau stellte. Dann predigte sie mich
regelrecht in Grund und Boden! Hinterher hatte ich das niederschmetternde Gefühl,
nichts wert zu sein. Wegen meiner Verfehlungen und weil ich sie so sehr enttäuscht
hatte, quälten mich danach noch tagelang Schuldgefühle und tiefe Niedergeschlagenheit.
Ich wollte ihr doch so gerne eine gute Tochter sein, ihr nur Grund zur Freude
geben, damit sie stolz auf mich sein konnte
Meine neue Freundin, die zum Glück gleich auf der gegenüberliegenden
Seite der Straße wohnte, stellte meine einzige Zuflucht dar, wenn mich
der Kummer übermannte. Als sich Maggy, wie ich sie nannte, als erste von
uns beiden verliebte, konnte ich nur ahnen, welch intensives Gefühl das
sein mochte. Fasziniert betrachtete ich ihre glänzenden Augen, wenn sie
von ihrem Angebeteten schwärmte, und bemühte mich, nachzuvollziehen,
was in ihrem Herzen vor sich ging. Stundenlang gingen wir spazieren und fantasierten
uns ein schöneres Leben zusammen, weil uns die Realität so grau und
lieblos vorkam.
Viel später überfiel auch mich der erste Liebeskummer, nachdem ich
mich hoffnungslos in einen Nachbarsjungen verliebt hatte, der aber keinen einzigen
Blick auf mich verschwendete. Im festen Glauben daran, dass sie mich verstand,
vertraute ich Mutter eines Tages meinen Kummer an. Doch sie erzählte am
selben Tag Harald davon, der dies sofort zum Anlass nahm, ungefragt seine prahlerischen,
peinlichen Schilderungen seiner eigenen ersten Liebesabenteuer zum Besten zu
geben, die mir nur beschämend vorkamen. Schockiert zog ich mich zurück,
verhielt mich verschlossen und eigenbrötlerisch, um nur ja nicht wieder
derart peinliche Einmischungsversuche heraufzubeschwören!
Ich schwieg mich lieber aus und schrieb dafür regelmäßig Tagebuch.
Ihm, so glaubte ich, konnte ich alles anvertrauen, was ich dachte und fühlte.
Bald regten sich auch in mir völlig neuartige Träume und Sehnsüchte,
denen ich alleine nachts im Bett nachhing, die rätselhaften Muster an der
Decke betrachtend, wenn mich nicht gerade eine der vielen Auseinandersetzungen
zwischen Mutter und Harald unten im Erdgeschoss in Atem hielten. Grundlos befiel
mich eine dumpfe Angst, womöglich selbst Anlass für die Auseinandersetzungen
zu sein, was in letzter Zeit immer öfter der Fall gewesen war. So lauschte
ich angestrengt, um den Grund des Streites zu erfahren, bis ich schließlich
doch müde wurde und einschlief. Wenn ich am nächsten Morgen Mutters
sorgenblasses Gesicht sah und die vielsagende steile Falte zwischen ihren vom
Weinen roten Augen, kam ich mir irgendwie schäbig und treulos vor, als
hätte ich sie im Stich gelassen. Vielleicht ist es mir deshalb so unerträglich,
Zeuge bei Streitigkeiten zu sein.
Haralds Verhalten mir gegenüber hatte sich seit unserem Einzug in sein
Haus stark gewandelt. Er entwickelte außerdem plötzlich einen völlig
übersteigerten Hang, mich zu kontrollieren und mich als sein Stiefvater
fortan erziehen zu wollen. Darüber hinaus wollte ich seine Anordnungen
nicht befolgen, denn ich akzeptierte nur Mutter als Autoritätsperson, und
ich lehnte mich gegen Harald auf, wollte ihm nicht gehorchen. Nach einigen weiteren
unglücklichen und völlig unangebrachten Anweisungen, die mich völlig
aus der Fassung brachten und verwirrten, verbat sich Mutter von da an jegliche
Einmischung von seiner Seite.
"Das ist meine Tochter, verstehst du? Wie ich sie erziehe und was ich mit
ihr mache, das geht dich gar nichts an! Also halte dich bitte da raus, verstanden?",
wies sie ihn in barschem Ton in seine Schranken, falls er künftig auch
nur den kleinsten Versuch unternehmen sollte, den Stiefvater zu spielen. Er
durfte mir nicht einmal dann helfen, wenn Mutter offensichtlich ungerecht zu
mir war. Selbst von Harald gut gemeinte Ratschläge fegte sie mit immer
der gleichen Zurechtweisung vom Tisch, Harald habe sich nicht einzumischen.
Seine Rolle des Vaters wurde einfach als funktionslos erklärt. Zwar durfte
er wirtschaftlich für mich sorgen, hatte aber ansonsten keine erzieherischen
Befugnisse.
Gewissermaßen aus Rache begann er nun, seinem Unmut auf andere Weise Luft
zu machen. Er fing an, gezielt gegen mich zu hetzen. Jeder einzelne meiner Schritte
wurde von da an überwacht, um Mutter zu beweisen, dass ein strenger Vater
vonnöten sei. Ständig suchte er nach Verfehlungen meinerseits, die
er petzen konnte. So wurde Harald zum miesen Denunzianten, zum verachtungswürdigen
Spitzel, der nicht davor zurückschreckte, mir ungeniert nachzuspionieren.
Einmal heuerte er gar einen Nachbarn an, mich zu beobachten, wohin ich ging
und mit wem ich mich traf. Auch ich misstraute ihm fortan, fühlte genau,
dass er längst nicht mehr auf meiner Seite war, und ging ihm aus dem Weg,
so gut ich nur konnte. Immer öfter machte ich es mir zur Gewohnheit, die
Debatten zu belauschen, die sich jetzt allesamt nur um mich und meine angeblichen
Verfehlungen drehten, um im Bilde zu sein, was im Moment wieder einmal gegen
mich vorlag. Ich tat manchmal auch nur so, als verließe ich das Haus,
blieb aber dann unter dem geöffneten Fenster stehen, um Zeuge seiner miesen
Hetzkampagnen zu werden. Unter dem Deckmäntelchen angeblicher Sorge um
meinen guten Ruf versuchte er, mich in ein schlechtes Licht zu rücken.
Als er eines Tages schamlos mein Tagebuch aufbrach, empfand ich nur noch Verachtung
für ihn. Er hatte den letzten Vertrauensrest schändlich missbraucht,
mein wachsendes Misstrauen nur noch bestätigt. Zu dieser Zeit schwärmte
ich für einen Nachbarsjungen und schrieb jeden Tag in das kleine Leinenbüchlein,
das ich danach mit einem kleinen Schlüssel, den ich um den Hals trug, sorgfältig
verschloss. Das, was ich in aller Heimlichkeit niedergeschrieben und von dem
ich niemals angenommen hatte, dass es außer mir jemand anderes zu Gesicht
bekäme, zerrte Harald nun ans Licht er Öffentlichkeit. Rücksichtslos
gab er mich der Lächerlichkeit preis, rezitierte immer wieder mit Vorliebe
die heikelsten Stellen, in denen von glühender Liebe und Herzklopfen die
Rede war, und ließ dabei keine Gelegenheit aus, mich zu verhöhnen
und vor anderen zu demütigen. Dieser Mensch war für mich endgültig
gestorben! Nie würde ich ihm das verzeihen können!
Die Jahre mit Harald verstrichen zäh wie Kunsthonig, denn jeder Tag wurde
mir zum Albtraum! Ich war gerade sechzehn geworden. Innerlich zwar noch ein
Kind, wurde ich lediglich körperlich erwachsen. Schlank und gut gewachsen
drehten sich bereits jetzt die Männer nach mir um und pfiffen mir in eindeutiger
Absicht hinterher. Da regte sich ein völlig neues Selbstbewusstsein in
mir, womit gleichzeitig auch die Lust zur Aufsässigkeit gegenüber
dem Hauptstörfaktor in unserer Familie, diesem niederträchtigen Stiefvater,
wuchs! Unterbewusst hatte ich mir wohl bereits zu diesem Zeitpunkt ein Ziel
gesetzt: Harald musste weg, denn das Leben zu Hause war unerträglich geworden.
Plötzlich bat mich Mutter immer wieder um Hilfe.
Sie zählt auf mich! Sie braucht mich!, schoss es mir durch den Kopf. Und
diese Tatsache verlieh mir den nötigen Mut, in brenzligen Situationen einzugreifen.
Wenn Harald beispielsweise sturzbetrunken nach Hause kam, wurde Mutter regelmäßig
kreidebleich vor Angst und fragte mich zitternd: "Nanni, was soll ich nur
tun? Er ist schon wieder sternhagelvoll! Ich fürchte mich vor ihm! Wer
weiß, was er heute wieder alles anstellt! Hilf mir!"
Das musste sie mir nicht zweimal sagen! Endlich konnte ich mich bewähren
und ihr zeigen, wie erwachsen ich schon war. Dreist stellte ich mich dem sinnlos
betrunkenen Harald in den Weg, beschwor Konfrontation geradezu heraus in dem
grimmigen Entschluss, wenn es zum Angriff kommen sollte, Mutter und Schwester
vor dem unberechenbaren Dreizentnermann und seinen Wutanfällen zu schützen.
Instinktiv wollte ich Mutter damit wohl beweisen, wie gefährlich und untragbar
dieser Kerl für uns inzwischen geworden war. Wie eine Wildkatze stürzte
ich mich auf dieses nichtswürdige Scheusal von Mann und kämpfte leidenschaftlich
gegen den lächerlichen Möchtegern-Vater', der mittlerweile zu
meinem Erzfeind geworden war. Mit schwimmendem Blick starrte er mich an, während
seine Pupillen reichlich Mühe hatten, mich im Auge zu behalten. In solchen
Momenten registrierte ich triumphierend seine Handlungsunfähigkeit, was
mich nur noch mehr anstachelte, und meine grenzenlose Verachtung für diesen
Säufer verlieh mir nie gekannten Mut und Kampfesgeist. Mein Ziel, ihn unbedingt
loszuwerden, kannte keine Grenzen mehr!
Mein Hass auf Harald nahm mit der Zeit ungeahnte Formen an. Wenn ich mit ihm
im selben Raum saß, war die Spannung zwischen uns fast körperlich
spürbar, als wären wir beide ständig kurz davor, uns gegenseitig
wie wilde Tiere anzufallen. War er nüchtern, schikanierte er mich mit ständig
lauernden Blicken, verfolgte jede meiner Bewegungen, als führte er etwas
Bedrohliches im Schilde. Diese unverhohlene Art des Begaffens war mir schier
unerträglich! Haralds Schweinsäugelein schienen allgegenwärtig
zu sein! Ich wünschte ihm inbrünstig den Tod für sein kleines,
stets präsentes zynisches Grinsen, wenn er mit Genugtuung feststellte,
dass er mich sichtlich nervös machte und er dadurch tatsächlich Macht
auf mich ausüben konnte. Ich revanchierte mich reichlich dafür und
ließ im Gegenzug keine Gelegenheit aus, mich heftig gegen seine unerträglichen
Anzüglichkeiten zur Wehr zu setzen, mit denen er versuchte, mich regelmäßig
mürbe zu machen. War ich länger als zehn Minuten im Bad, musste Harald
natürlich ausgerechnet dann auf die Toilette. Lackierte ich mir daraufhin
im Wohnzimmer die Fingernägel, lästerte er über den stechenden
Geruch und machte verächtliche Bemerkungen über mein Äußeres,
das in seinen Augen ohnehin sehr zu wünschen übrig ließ.
"Ha! Das kann auch der schönste Nagellack nicht ausgleichen!",
höhnte er und bedachte mich mit einem verächtlichen Blick. Das und
vieles mehr zählte zu den alltäglichen Bosheiten, denen ich ständig
ausgeliefert war. Mutter nahm es mit Gelassenheit. Ein gelegentliches "Jetzt
lass doch die Nanni auch mal in Ruhe!" war alles, was sie zu sagen hatte.
Sie wollte nicht wahrhaben, dass wir uns gegenseitig bis aufs Blut verabscheuten.
Meine kleine Schwester Susanne war inzwischen zu einem fröhlichen und hübschen
Kleinkind herangewachsen. Ich fungierte als ihre Lehrmeisterin, brachte ihr
das Laufen bei, das Aufstehen, das Treppensteigen. Sie hing sehr an mir, und
wenn sie zu Bett ging, erzählte ich ihr kleine lustige Geschichten, hielt
ihre kleine warme Hand und liebte dieses Mädchen, das wie durch ein Wunder
auf diese Welt gekommen war, innig. Zwischen uns beiden bestand von Anfang an
ein tiefes gefühlsmäßiges Band, eine Tatsache, die von Mutter
mit verwirrtem Erstaunen registriert wurde.
"Dass das Kind nur so sehr an dir hängt
?", als wäre
Geschwisterliebe etwas vollkommen Unnatürliches.
Einmal saßen wir zu Tisch. Es gab Nudelsuppe. Susanne, ohnehin ein zierliches
Kind, ein "schlechter Esser", hatte meist bei den Mahlzeiten keinen
richtigen Hunger, und man musste ihr gut zureden, damit sie aß. Harald
hatte am Vorabend wieder mal einen zu viel über den Durst getrunken und
befand sich in gereizter Stimmung, weil man ihn zum Essen extra geweckt hatte.
Nun suchte er buchstäblich nach einem willkommenen Anlass, um seine Aggressionen
an irgendjemand auszulassen. So fing er an, die Kleine zu quälen.
"Du isst jetzt die Suppe, sonst setzt es was!", schrie er sie an und
spuckte ihr in der Heftigkeit seiner Worte Speicheltröpfchen ins Gesicht.
Die Kleine blinzelte und wendete instinktiv das Gesicht von ihm ab, denn er
hatte dazu noch eine stattliche Fahne. Ich war schon in Alarmstimmung, ließ
ihn keinen Moment aus den Augen! Er sollte es ja nicht wagen, Susanne auch nur
anzurühren, dann würde er mich kennenlernen! Drohend baute er sich
jetzt vor dem Kind auf, um genauestens zu kontrollieren, ob sie auch richtig'
aß. Hier konnte er sich endlich in einer tyrannischen Vaterrolle gefallen
- etwas, was ihm bei mir stets verwehrt worden war - und seine erzieherischen
Machtgelüste an einem kleinen, wehrlosen Kind auslassen. Einige Minuten
lang beobachtete ich argwöhnisch die Szene und stand bereits in den Startlöchern,
die Hände bereits auf die Tischplatte gestützt, um jeden Moment eingreifen
zu können. Vor Empörung schlug mir das Herz bis zum Hals und ich konnte
kaum atmen vor verhaltener Wut auf Harald. Es bedufte nur einer winzigen Kleinigkeit
und ich würde auf ihn losgehen wie eine Tigerin.
Erneut schrie er die kleine Susanne an: "Du sollst jetzt essen, hab ich
gesagt! Verdammt!" Wieder brüllte er dem Kind ins Gesicht.
Ich kochte! Es war schier unerträglich. Im Hintergrund hörte man Mutter
nur beschwichtigend murmeln: "So iss halt dann die Suppe, Kind!"
Doch Susanne ekelte sich, konnte einfach nichts hinunterschlucken. Schon begann
sie zu würgen, doch es half nichts, sie musste die Suppe essen! Als sie
sich weiterhin standhaft weigerte und dafür die Suppe krampfhaft im Mund
behielt, anstatt sie zu schlucken, riss Harald der Geduldsfaden. Er holte aus
und schlug sie auf den Hinterkopf.
Dabei brüllte er: "Schluck sie jetzt runter!"
Von dem Schlag verschluckte sich Susanne so heftig, dass sie in den Teller spuckte,
wobei ihr die Suppennudeln in die Nase gerieten und sie plötzlich keine
Luft mehr bekam. Hilflos schnappte und hustete sie zugleich. Mutter rührte
sich nicht. Stur stand sie in der Ecke und tat, als wäre sie intensiv mit
ihrer Hausarbeit beschäftigt. Von ihr konnte ich also keine Unterstützung
erwarten. So musste ich eben selbst handeln!
Wutentbrannt sprang ich auf, schrie nun Harald an: "Du Unmensch! Wie kannst
du nur! Siehst du denn nicht, dass sie fast keine Luft mehr kriegt!" Ich
hob das Kind hoch, nahm sie auf den Arm und verließ mit ihr die Küche.
Im Hinausgehen zischte ich Harald noch ins Gesicht: "Du verdienst es gar
nicht, ein Kind zu haben, du ekelhafter Mensch, du!"
Da sprang er ebenfalls auf und stellte sich mit erhobener Hand drohend vor mich
hin.
Herausfordernd sah ich ihn mit zusammengekniffenen Augen ins rot glänzende
Gesicht. Ich fauchte: "Schlag ruhig zu, dann melde ich dich dem Jugendamt,
das schwöre ich dir! Und jetzt geh mir sofort aus dem Weg!"
Er ließ die Hand wieder sinken, starrte mich betroffen an. Susanne auf
dem Arm stieg ich die Treppe hinauf, ehe ich mich in meinem Zimmer mit ihr einschloss.
Laut fiel unten die schwere Haustür ins Schloss. Harald machte sich wieder
einmal in Richtung Kneipe auf den Weg, um seinen Restalkohol aufzufrischen!
Von dieser Stunde an hasste und verachtete ich diesen Grobian nur noch mehr.
Denn sich an einem kleinen Kind zu vergreifen war wohl das Verachtungswürdigste,
was ich kannte! Ich wusste, irgendwann würde ich diesem Kerl endgültig
das Handwerk legen!
Gleichzeitig triumphierte ich innerlich, wenn es mir gelang, ihn wenigstens
für eine Weile mundtot zu machen, ihn gehörig aus der Fassung zu bringen.
Dann war ich glücklich und stolz und glaubte, wieder einmal als echte Heldin
aus der Situation hervorgegangen zu sein. Für besonders mutige Einsätze
am betrunkenen, randalierenden Harald wurde ich von Mutter geradezu bewundert:
"Das hast du aber gut gemacht! Er hatte ja richtig Angst vor dir! Ich bin
ja so froh, dass du da warst! Alleine wäre ich nicht gegen ihn angekommen!",
versicherte sie mir nach solchen Zwischenfällen.
Und ich war stolz darauf, solche Art von Belobigung von ihr erhalten zu haben.
Sie würde sich immer auf mich verlassen können! Ich würde die
beiden jederzeit vor diesem üblen Tyrannen beschützen, das schwor
ich mir. Mutter erging es wie mir. Wir konnten gar nicht fassen, wie sich Harald
in den letzten Jahren verändert hatte! Wie konnte ein Mensch sich nur derart
verstellen?
Quasi als Anerkennung für meine Hilfe informierte Mutter mich detailliert
über seine jüngsten Schandtaten, Beleidigungen und nächtlichen
Übergriffe, damit ich auch stets über alles genau im Bilde sein sollte,
etwas, was sehr wichtig für mich war, wenn ich Mutter effektiv beschützen
wollte. Dies verlieh mir zusätzlich den Status einer guten Freundin'.
Ich wurde dadurch zur Verbündeten, was ich als eine große Auszeichnung
wertete!
Doch Mutter ahnte nicht, was sie damit bei mir anrichtete! Meine Angriffslust
gegenüber Harald wuchs zusehends, und ich wartete nur darauf, ihn, wenn
er betrunken nach Hause kam, herauszufordern, um auf diese Weise meinem stets
gierigen Hass neues Leben einzuhauchen! Dann nutzte ich seine alkoholbedingte
körperliche Benommenheit aus und ging auf ihn los wie ein kleiner frecher
Köter, der einen überfütterten Rottweiler anspringt.
Die Geldnot war inzwischen alltäglich geworden, weil ganze Stangen an Zigaretten,
wöchentlich bis zu vier Kästen Bier und tägliche Fleischportionen
den Geldbeutel schnell schmal werden ließen. Oft reichte es nicht mehr
für die wichtigsten Grundnahrungsmittel. Eines Tages konnte Mutter nicht
einmal mehr eine Tüte Salz kaufen und musste ihrem Ehemann das Essen völlig
ungesalzen vorsetzen. Trotz seines schweren Rausches schmeckte er sofort, dass
etwas fehlte, und er begann sofort, unflätig herumzubrüllen.
Er beschimpfte Mutter: "Was ist los mit dir? Kannst nicht kochen, und sonst
ist auch nicht viel mit dir los, weiß der Teufel!", lallte er und
wollte gar nicht mehr aufhören, sie zu erniedrigen und zu beleidigen.
Mutter reagierte nicht.
Da sprang er auf und torkelte hinaus ins Wohnzimmer, wo Mutter schweigend in
der Ecke saß. "Was bist du denn überhaupt für ein Weib?
Pfui Teufel! Was hab ich denn da nur geheiratet! Ich hätte Junggeselle
bleiben sollen!", keifte er und der Speichel lief ihm aus den Mundwinkeln
heraus.
Das reichte! Jetzt kam Leben in mich! Ich sprang auf und ging drohend auf ihn
zu. Dann baute ich mich vor ihm auf, blickte verächtlich auf ihn nieder
und stieß ihn mit einer ruckartigen Handbewegung in den nächsten
Sessel, wo er völlig verdutzt sitzen blieb und verdattert vor sich hin
starrte.
"He du! Du elender Versager! Was schreist du denn hier eigentlich herum?
Sieh dich doch mal an! Du bist doch nur ein jämmerliches, ständig
betrunkenes Subjekt, das nicht einmal seine Familie anständig ernähren
kann! Gib Mutter gefälligst von deinem versteckten Geld, damit sie uns
Lebensmittel kaufen kann. Sie wird nicht mehr fertig damit, dein gieriges Maul
zu stopfen! Oder hast du etwa alles schon versoffen, hä?"
Als keine Reaktion von ihm erfolgte, ging ich in die Küche und begann den
Tisch abzuräumen, seinen Teller mit dem Essen, das er nicht angerührt
hatte. Nach anfänglichem Erstaunen über meine Dreistigkeit kam endlich
Bewegung in Harald. Wankend stand er aus dem schweren Sessel auf und packte
den großen gläsernen Aschenbecher aus Bleikristall, der auf dem Wohnzimmertisch
stand. Dann warf er den schweren Gegenstand blitzschnell in meine Richtung.
Nicht mal schlecht gezielt für einen Trunkenbold!, dachte ich in grimmiger
Anerkennung. Nur um ein Haar verfehlte das Geschoss meinen Kopf und landete
klirrend in einer Ecke des verwinkelten, schwer einsehbaren Treppenhauses, wo
es, wie sich später zeigte, unbemerkt in der Mitte entzweigebrochen war.
Wohl in der Absicht, seinen Fehlwurf zu wiederholen, wankte Harald hinaus auf
den schlecht beleuchteten Flur. Dort sah er sein Wurfgeschoss scheinbar unversehrt
in der Ecke liegen. Mühsam das Gleichgewicht haltend bückte er sich
nach dem Ungetüm von Aschenbecher und griff, ohne es zu ahnen, mitten in
die exakt in zwei Hälften zerbrochenen messerscharfen Scherben. Plötzlich
stoppte Harald mitten in der Bewegung, war wie erstarrt. Irgendetwas musste
geschehen sein. Die Sekunden verstrichen und er rührte sich nicht. Ich
wartete, versuchte vergeblich an seinem breiten Rücken vorbei, in den düsteren
Hausflur zu schauen. Als er sich schließlich aufrichtete und in die Küche
stolperte, sah ich seine böse Verletzung. Jetzt erst begriff ich, dass
er sich am Aschenbecher geschnitten haben musste. Aus seiner Handfläche
sickerte eine dunkelrote Flüssigkeit, bildete einen kleinen roten See darin.
Als Harald das Blut sah, verfiel er in völlige Apathie, setzte sich auf
einen Stuhl und stierte wie hypnotisiert auf seine verletzte Hand, die er nun
absichtlich hinabhängen ließ. Patt, patt, patt, tropfte es unablässig
auf den Küchenboden.
Schnell nahm ich meine kleine Schwester beiseite, die draußen gespielt
hatte und soeben ins Haus gekommen war. Keinesfalls sollte sie diesem Anblick
ausgesetzt werden. Mutter versuchte indes, Harald zu verbinden. Doch er wollte
das nicht, zog es vor, weiter zu bluten. Schnell lief sie zur nahen Rot-Kreuz-Leitstelle.
Ein Telefon besaßen wir damals noch nicht. Selbst als zehn Minuten später
der eingetroffene Sanitäter in der Küche stand und ihn ermahnte: "So
lassen Sie sich doch verbinden! Sie verlieren recht viel Blut. Das muss unbedingt
genäht werden
!", reagierte Harald immer noch nicht. So musste
der Krankenwagen unverrichteter Dinge wieder abfahren. Man könne ihn nicht
zwingen, sich helfen zu lassen, erklärte er uns.
Mutter war kreidebleich und meinte tonlos: "Dann soll er doch machen, was
er will! Jedenfalls sehen wir nicht zu, wie er hier langsam verblutet!"
Kurz entschlossen nahm sie Susanne an der Hand und forderte mich auf, mit ihr
das Haus zu verlassen. Aus Angst vor möglichen weiteren Ausfällen
entschied sie, die nächsten Stunden bis zum Abend bei Tante Helene Zuflucht
zu suchen, bis sich die Situation wieder beruhigt hatte. Wie es weitergehen
sollte, wussten wir in diesem Moment noch nicht. Für meine Begriffe gab
es jetzt nur noch eine Alternative für uns drei: Wir mussten diesen Unmenschen
verlassen, uns einfach irgendwo eine billige Wohnung suchen! Nach dieser grässlichen
Szene kam etwas anderes für uns ohnehin nicht mehr in Frage. Haralds Hang
zum maßlosen Trinken würde sicher nicht abnehmen, im Gegenteil! Irgendwann
würde noch etwas viel Schlimmeres geschehen, etwa einen von uns verletzen!
Warum nur hatte Mutter ihn so schnell geheiratet, war mit ihm in diese verwünschte
Stadt gezogen, wo alles Unglück erst seinen Anfang genommen hatte? Jetzt
lebten wir in seinem Haus. Unser Häuschen auf dem Lande besaßen wir
ja längst nicht mehr! Nichts von dem ganzen Geld aus dem Verkauf war mehr
übrig geblieben, um uns eine neue Zukunft aufzubauen. Es war schier ausweglos!
Inzwischen hoffte ich, Harald möge doch schnell verblutet sein, damit wir
endlich in Ruhe leben konnten ohne seine ständigen Übergriffe. Ich
befürchtete außerdem seelische Schäden bei der kleinen Susanne,
falls sich solche abartigen Vorkommnisse wie heute wiederholten.
Bei meiner Tante versuchten wir uns den ganzen Nachmittag von den furchtbaren
Vorfällen abzulenken, was uns natürlich nur schwer gelingen wollte.
Lediglich meine kleine Schwester spielte ausgelassen mit Tante Helenes fast
gleichaltrigen Tochter im Garten. Ich hingegen hatte ständig den blutenden
Harald vor Augen, wie er dasaß und seiner Hand beim Bluten zusah, und
ich fragte mich, was er wohl in der Zwischenzeit angestellt haben mochte. Ich
fürchtete mich vor dem, was heute und in Zukunft alles auf uns zukam. In
meinen Augen war er inzwischen zum gefährlichen Geisteskranken geworden,
ein heilloser Säufer, der uns alle noch ins Unglück stürzen würde,
falls wir weiterhin bei ihm blieben.
Erst gegen Abend wagten wir uns wieder heim und stellten beim Betreten des Hauses
angewidert fest, dass das ganze Erdgeschoss blutverschmiert war. Offenbar hatte
Harald, nachdem er überall mit Blut an Wände und Spiegel Parolen wie
"Verflucht!" geschrieben hatte, das Haus verlassen. Wir wussten nicht,
wo er sich im Augenblick aufhielt. Mutter machte sich, für mich völlig
unbegreiflich, plötzlich Sorgen um ihn und fragte sich ständig, wie
er wohl ganz allein mit seiner tief aufgeschnittenen Hand zurechtgekommen war.
Meiner Meinung nach hatte er es überhaupt nicht verdient, dass man sich
auch nur eine Minute um ihn sorgte! Ich hoffte nur, er möge erst dann zurückkommen,
wenn seine Wut verflogen und er vollkommen nüchtern wäre. Meinetwegen
brauchte er überhaupt nicht mehr nach Hause zu kommen. Auf den Gedanken,
dass Mutter womöglich Gefühle für ihn hegte und sich nur deshalb
Sorgen um ihn machte, verfiel ich nicht eine Sekunde lang. Ich war wohl zu jung,
um zu verstehen, dass man seine Gefühle nicht einfach abschalten konnte,
selbst dann nicht, wenn es sich um einen maßlosen Trinker handelt.
Das ganze Haus roch streng nach Blut. Wohin man auch blickte, überall konnte
man Blutspritzer entdecken. Man hätte tatsächlich den Eindruck haben
können, hier wäre so etwas wie ein Kapitalverbrechen geschehen! Schnell
brachte ich Susanne ins Bett, wo sie nach der gewohnten Gute-Nacht-Geschichte
schnell einschlief. Womöglich waren die Ereignisse doch nicht völlig
spurlos an ihr vorübergegangen. Ich war sicher, dass Kinder es sehr genau
spürten, wenn schlimme Dinge passieren, und die Erwachsenen merken es nicht
einmal. Ein paar Minuten lang betrachtete ich den kleinen schlafenden Engel.
Die goldenen Löckchen umspielten das süße Kindergesicht und
die kleine Brust hob und senkte sich im Schlaf. Ein goldener Kranz langer Wimpern
bewachte die geschlossenen Lider. Es war Haralds Tochter und er? Er war so ein
mieser, undankbarer Vater! In diesem Moment schwor ich, Susanne stets zu beschützen,
ganz gleich, was auch kommen mochte
Mutter putzte bis spät in die Nacht hinein, schwitzte und weinte gleichzeitig
dabei leise vor sich hin, sodass ich nicht unterscheiden konnte, ob es sich
um Schweiß oder um Tränen handelte, wenn sie sich ständig das
Gesicht wischte. So gut ich konnte, half ich ihr beim Saubermachen. Unzählige
Lappen wanderten direkt in die Mülltonne, weil sie vom Blut nur so troffen.
Wie besessen scheuerten wir bei weit geöffneten Fenstern, doch der widerliche
Blutgeruch hing noch tagelang im Haus. Die hohen Wände im Treppenaufgang
zeugten noch Jahre danach von dem Vorfall, denn einen Maler konnten wir uns
nicht leisten.
Irgendwann in der Nacht kehrte Harald mit fachmännisch verbundener Hand
nach Hause zurück. Wortlos ging er zu Bett. Von diesem Tag an änderte
sich Mutters Gesinnung, als fürchtete sie, die Situation könnte irgendwann
völlig außer Kontrolle geraten. Mit verschlossenem Gesichtsausdruck
befahl sie mir in halb flehendem, halb herrischem Ton, mich in Zukunft nicht
mehr einzumischen. Kam Harald betrunken heim, ging ich ihm fortan gezielt aus
dem Weg. Trotzdem beobachtete ich auch künftig sein Verhalten mit Skepsis.
Wurde er ausfallend und angriffslustig, brachte ich ihn zur Raison, indem ich
ihm mit der Polizei drohte, was ihn sofort einschüchterte. Das ließ
ich mir nach wie vor nicht nehmen. Schließlich konnte ich nicht tatenlos
zusehen, wie er Mutter und Schwester mit seinen Gewaltakten verängstigte.
Entweder verhielt er sich ab da entsprechend ruhig oder er ging einfach wieder
weg, um sich erst wieder in den frühen Morgenstunden zurück ins Haus
zu schleichen, wenn alles schlief. Nicht selten wartete Mutter die halbe Nacht
auf ihn. Ich wusste, lang anhaltende heftige Streitereien spät nachts,
in deren Verlauf sie sich gegenseitig die schlimmsten Ausdrücke an den
Kopf warfen, würden folgen. Auch ich schlief in solchen Nächten nicht,
lauschte nach unten, um Mutter bei eventuellen körperlichen Übergriffen
zu beschützen, auch wenn sie es neuerdings nicht mehr haben wollte.
Tags darauf konnte Harald sich wie immer an nichts erinnern, und es wurde so
getan, als sei nichts Schlimmes vorgefallen. Nur Mutters eisige Miene und ihr
verkniffener Mund ließen von den Geschehnissen des Vortages ahnen. Wundersamerweise
normalisierte sich die Lage aber schnell wieder. Ganz selbstverständlich,
als handelte es sich um ein unausgesprochenes Gesetz, das nur ich nicht durchschauen
konnte, fiel vonseiten meiner Mutter kein einziges Wort mehr über die jüngsten
Ereignisse. Für mich vollkommen unbegreiflich, weil in meinen Augen ungerecht,
schien Haralds verachtungswürdiges Verhalten wie ganz von selbst und innerhalb
von nur wenigen Stunden vergessen und vergeben. Und das bei meiner Mutter, die
so nachtragend war, wenn es sich um andere handelte.
Warum nur lässt sie sich das alles gefallen?, dachte ich verzweifelt, und
ich musste feststellen, dass Mutter bei Harald völlig andere Maßstäbe
ansetzte als bei mir. Er durfte sich offensichtlich alles erlauben! Ich aber
konnte nicht einfach vergessen, geschweige denn sein skandalöses Verhalten,
verursacht durch sein unkontrolliertes Trinken, verzeihen. Ich war empört,
und jede Faser in mir rebellierte gegen diesen groben Kerl, der uns drei nur
Unglück und Terror brachte. Ich fand, er hatte weder Frau noch Kind verdient!
Dieser ständige Stimmungswechsel und Mutters Unfähigkeit, sich von
diesem heillosen Trinker zu trennen, konnte ich nicht mehr nachvollziehen. Ich
vermochte in meinen Augen keinen Grund zu finden, warum sie an der Seite dieses
nichtswürdigen Menschen noch ausharrte. Doch es war ihre ausdrückliche
Anordnung, Harald nicht mehr zu provozieren, um keine weiteren Zwischenfälle
mehr heraufzubeschwören. Lieber unternahm sie überhaupt nichts mehr!
Ich fügte mich widerwillig, konnte es aber trotzdem nicht lassen, Mutter
unermüdlich gegen ihn einzunehmen. Der Wunsch, Harald loszuwerden, manifestierte
sich zusehends in mir. Das Leben hätte so schön sein können,
ohne dieses Scheusal, das mit seiner Unberechenbarkeit Mutter und Schwester
immer wieder aufs Neue maßlos ängstigte! Sie musste es doch irgendwann
begreifen, musste sich einfach nur von ihm trennen, und zwar endgültig!
Das schien für uns drei der einzig richtige Weg zu einem friedvollen Leben
ohne Streit und schlimme Szenen zu sein! Ich wollte Mutter, falls sie sich dazu
durchringen könnte, Harald zu verlassen, nach allen Kräften unterstützen
und ihr helfen, wo ich nur konnte. Gerne würde ich ihr auch jeden Pfennig
abtreten, den ich während meiner Lehre verdiente. Für sie wollte ich
gerne auf alles verzichten, nur damit wir drei endlich wieder glücklich
leben konnten!
Doch es änderte sich nichts. Kam Harald, wie von mir nicht anders erwartet,
immer öfter bereits am hellen Tag torkelnd heim, konnte ich mich einfach
nicht beherrschen und begann erneut, meiner Meinung über ihn rückhaltlos
Luft zu machen.
Lauthals pöbelte ich über seinen unmäßigen Alkoholkonsum.
"Schau ihn dir doch nur mal an!", rief ich. "Pfui! Der ist ja
schon wieder sternhagelvoll! Und das am helllichten Tag! Dieses nutzlose Subjekt!
So was will nun ein Familienvater sein! Pah! Dass ich nicht lache!"
"Sei doch still!", zischte mich Mutter an. Sie hatte sich offenbar
bereits geschlagen gegeben, sich in ihr Schicksal gefügt, wollte sich gar
nicht mehr wehren und sich nicht mehr von mir helfen lassen!
Stattdessen geriet ich selbst mehr und mehr in die Position der Außenseiterin,
derjenigen, die immer nur Unruhe stiftete.
Weil ich es aber nicht lassen konnte zu hetzen und einfach keine Ruhe geben
wollte, verkündete sie mir eines Tages in eisigem Tonfall: "Jetzt
hör mir mal gut zu, Mädel! Wenn du dich nicht mit ihm vertragen kannst,
dann ist es wohl das Beste, wenn du baldmöglichst hier ausziehst! Denn
merk dir eins: Ich bin schließlich mit ihm verheiratet, und daran kann
ich nun mal nichts ändern! Hast du verstanden?"
Diese wahrhaft unmissverständlichen Worte trafen mich wie ein Peitschenhieb!
Nun wusste ich zweifellos, woran ich war! Mutter wollte offenbar eher auf ihre
Tochter verzichten als auf ihren trunksüchtigen Mann, der die ganze Familie
schikanierte und allen das Leben zur Hölle machte! Mein ganzes Engagement,
die vielen Machtkämpfe mit Harald erschienen mir angesichts dieser neuen
Situation geradezu lächerlich und im Nachhinein völlig unangebracht.
Wie Schuppen fiel es mir plötzlich von den Augen und ich sah die ganze
Situation in einem völlig anderen Licht. Jetzt schämte ich mich plötzlich
für meine offenbar völlig unerwünschten Einmischungs-versuche
in Mutters Ehe, von der sie mir zwar viel erzählt hatte, über die
ich aber im Grunde nichts wusste. Dumpf ahnte ich mit meinen siebzehn Jahren,
dass es da noch einen Bereich geben musste, worin mich Mutter nicht eingeweiht
und von dem ich nicht die leiseste Ahnung hatte: Mutter liebte Harald, und nur
deshalb blieb sie bei ihm! Ein fataler Umstand, den ich in meiner jugendlichen
Naivität natürlich völlig außer Acht gelassen hatte! Was
hätte es auch genutzt, wenn sie es mir unverblümt gesagt hätte
- ich hätte es ohnehin nicht verstanden! Einen Menschen wie Harald zu lieben
wäre für mich mit dem Versuch vergleichbar gewesen, ein Krokodil zu
lieben!
Nun hatte meine eigene Mutter von einer Stunde zur anderen unmissverständlich
Partei gegen mich ergriffen, scheinbar endgültig vor Harald kapituliert
und erwartete nun dasselbe von mir. Diese Erkenntnis und die tiefe Enttäuschung
über diesen jähen Sinneswandel, das niederschmetternde Gefühl,
in meinem Elternhaus ab sofort fehl am Platze zu sein, brachten mich innerhalb
kürzester Zeit zu dem wilden Entschluss, auf der Stelle fortzugehen und
dieser verhassten Stadt, die mir ohnehin nie eine richtige Heimat gewesen war,
für immer den Rücken zu kehren. Wenn mich auch der Gedanke an die
Trennung von meiner kleinen Schwester sehr schmerzte und ich das Gefühl
hatte, sie damit zu verraten, musste ich doch endgültig einsehen, dass
die Lage allem Anschein nach hoffnungslos war. Mutter würde nie den Mut
aufbringen, mit ihren Kindern eigene Wege zu gehen. Zu viel hatte sie hier investiert,
um jetzt einfach aufzugeben. Das Blatt hatte sich gewendet. Völlig überraschend
und ganz entgegen meinen Plänen war nun ich selbst diejenige, die das Feld
zu räumen hatte!
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